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Doppelstandards im internationalen Strafrecht – und (k)ein Ende?

 

Berlin, später Dienstagnachmittag: Ich gebe Interviews. Wall Street Journal, The Independent, Al Jazeera, alle wollen eine Einschätzung des ECCHR zur Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag, Ermittlungen gegen britische Militärs zu prüfen. Die Entscheidung des IStGH ist ein Meilenstein – für die Opfer von Folter und Misshandlungen ebenso wie für die internationale Strafjustiz. Auch für uns ist es ein wichtiger Erfolg.

Erst vergangene Woche waren wir in Den Haag, der regnerischen „Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit“, um über unsere Strafanzeige gegen hochrangige britische Militärs und ehemalige Minister wegen systematischer Folter im Irak zu diskutieren. Freundlich haben sie uns empfangen, die Vertreter der Anklagebehörde des IStGH. Freundlich sind sie meistens, die Ankläger, und gesprächsoffen. Auf Konferenzen oder bei Arbeitstreffen fehlt es nicht an Pathos und an Absichtserklärungen, diejenigen vor Gericht zu bringen, die die größte Verantwortung für Menschheitsverbrechen tragen.

Die Realität der ersten zwölf Jahre des Gerichts sieht weniger rosig aus – und dies ist nur begrenzt Schuld der engagierten Den Haager. Nach wie vor haben viele der mächtigsten Staaten der Erde das Statut nicht ratifiziert, das aus dem Internationalen Strafgerichtshof einen wirklichen Weltstrafgerichtshof machen könnte – die USA ebenso wenig wie China, Russland oder Indien. Und wer sich nicht freiwillig der Gerichtsbarkeit unterwirft, gegen den kann Den Haag nur ermitteln, wenn es der UN-Sicherheitsrat beschließt. Das war bisher zweimal der Fall: Nur beim Sudan und bei Libyen war sich der Sicherheitsrat soweit einig, dass kein Mitgliedsstaat sein Veto eingelegt hat.

Die Ankläger werden von Eingaben überschüttet, 10.000 sollen es bisher gewesen sein, manche sehr kurz, manche ausführlich. Viele der geschilderten Sachverhalte kann Den Haag schon aus offensichtlichen rechtlichen Gründen nicht bearbeiten. Außerdem haben afrikanische Staatsführer dem Gericht zuletzt vorgehalten, bisher ausschließlich in afrikanischen Fällen formelle Ermittlungen eingeleitet zu haben. Der Vorwurf geht ein wenig ins Leere, da viermal die Staaten selbst sich ans Gericht gewandt haben, zweimal hat es der UN-Sicherheitsrat beschlossen und nur zwei Verfahren hat der damalige Chefankläger Luis Moreno Ocampo selbst eingeleitet.

Das Gericht will es sich mit dem Westen nicht verderben

Deswegen ist der Vorwurf nicht angebracht, dass sich das Gericht nur mit den afrikanischen Fällen beschäftigt, denn dort wurden massive Verbrechen begangen – die verdienen alle Aufklärung. Gerechter wäre es allerdings, wenn das Gericht den Verdachtsmomenten gegen alle Konfliktparteien gleichermaßen nachginge, denn auch daran mangelt es oft. Wirklich kritisch ist aber, wenn die Anklagebehörde nicht auch in Fällen in Kolumbien oder Gaza formell ermittelt. Dies geschieht nicht zuletzt aus politischen Gründen: Die Länder des Westens sind die großen Unterstützer des Gerichtes, auch finanziell. Mit ihnen will das Gericht es sich nicht verderben. Eher nimmt man hin, von der Afrikanischen Union als voreingenommen gescholten zu werden.

Aber noch einmal: Die Richter und Ankläger in Den Haag sind mitnichten die Einzigen, die dafür sorgen, dass sich die internationale Strafjustiz fast ausschließlich mit den Besiegten und den Schwachen beschäftigt. Auch die Strafverfolgungsapparate der Nationalstaaten, auch der europäischen, scheuen die hohen politischen Nebenkosten. So können die Verdächtigen aus wichtigen Staaten weiter ungehindert durch die Welt reisen.

Die aktuelle Entscheidung des IStGH wird nun wohl nicht zu einer neuen Ausrichtung der internationalen Strafjustiz führen, aber sie hat Strahlkraft. Das zeigen auch andere Strafanzeigen gegen hochrangige westliche Politiker: Die Mitarbeiter des CIA-Renditionprogramms zur Entführung von Terrorverdächtigen und selbst der ehemalige US-Präsident George W. Bush und sein Verteidigungsminister Rumsfeld vermeiden Reisen nach Europa, seitdem das ECCHR sowie andere Menschenrechtsanwälte und -organisationen Strafanzeigen gegen sie in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Spanien eingereicht haben.

Das immerhin haben wir geschafft. Doch wie viele Verfahren mehr wären möglich, wenn die Öffentlichkeit sich mehr interessierte und dafür einträte, die Menschenrechte nicht der vermeintlichen politischen Notwendigkeit und den wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen?

Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.