Eigentlich wollte ich ja vergangenes Wochenende nach Varvarin in Serbien fahren. Dorthin wo vor 15 Jahren, am 30. Mai 1999, während des Kosovo-Krieges bei zwei kurz aufeinanderfolgenden Nato-Luftangriffen 10 Menschen starben und 30 verletzt wurden, alle Zivilisten. Es wäre der erste Besuch in Varvarin für mich gewesen – und das obwohl ich gemeinsam mit Kollegen ab 2006 die Hinterbliebenen in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vertreten habe.
Wie kamen die serbischen Kläger überhaupt dazu, vor deutschen Gerichten zu klagen? Schon kurz nach den Angriffen hatten Überlebende und Angehörigen der Toten, unterstützt von einer Gruppe von deutschen Friedensaktivisten, vor dem Bonner Landgericht eine Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht. In Bonn, weil das Bundesverteidigungsministerium, als Vertreter der Bundesregierung, auf der Bonner Hardthöhe ansässig war und auch heute noch ist. Die Klage wurde damit begründet, dass der Angriff auf den Ort Varvarin nach dem Humanitären Völkerrecht verboten gewesen sei und daher eine Amtspflichtverletzung auch von deutschen Stellen darstelle, selbst wenn mutmaßlich britische oder US-amerikanische Flieger die Bomben abgeworfen haben. Schließlich habe Deutschland im Nordatlantikrat der Nato Ziellisten verabschiedet, auf denen die Brücke von Varvarin als grundsätzlich geeignet eingestuft wurde, um die von der Nato verfolgten politischen Ziele zu erreichen.
Politischer Druck verhinderte Ermittlungen
Die Kläger argumentierten, Varvarin sei kein legitimes militärisches Ziel gewesen. Zudem hätten die Bombenangriffe unzulässig auf die Zivilbevölkerung abgezielt. Das Ministerium erwiderte, über die kleine Brücke in dem Ort hätten doch Truppenbewegungen stattfinden können. Eine fürwahr sparsame Begründung, nahm doch die Nato seinerzeit für sich in Anspruch, in legitimer Weise gegen geltendes internationales Recht zu verstoßen, weil das Militärbündnis aus humanitären Motiven handele. Man habe zugunsten der unter schweren Menschenrechtsverletzungen leidende Bevölkerung im Kosovo intervenieren müssen. Um also kosovarische Zivilisten zu retten, bombardierte man Hunderte Kilometer entfernte serbische Zivilisten. – Keine wirklich überzeugende Erklärung, zumal die Bombardierung am helllichten Tag stattfand, und zwar an dem orthodoxen Pfingstsonntag, einem belebten Markttag. Und beim zweiten Angriff zudem noch mehr Leben kostete, weil auch jene Menschen getötet wurden, die auf die Brücke liefen, um den Verletzten des ersten Angriffs zu Hilfe zu eilen.
Der Nato wurden seinerzeit mehrere derartige Tötungen von Zivilisten vorgeworfen. Als Kriegsverbrechen seien diese vom Internationalen Jugoslawien-Tribunal zu verfolgen, meinten Amnesty International und andere – ohne Erfolg. Carla del Ponte, damals Chefanklägerin in Den Haag, schreibt in ihren Memoiren, der politische Druck sei zu groß gewesen, deswegen habe sie keine Ermittlungen eingeleitet.
Vielleicht eine vorhersehbare Niederlage
Also versuchten die Varvariner es in Deutschland. Sie verloren vor dem Landgericht, dem Oberlandesgericht, dem Bundesgerichtshof und nach 15-jährigem Rechtsstreit schließlich auch vor dem Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe kritisierte zwar die Gerichtsurteile, hielt aber deren Mängel letztlich für unbeachtlich. Entscheidend sei, dass der Bundesrepublik Deutschland keine unmittelbare Beteiligung an dem Angriff und auch keine konkrete Kenntnis desselben nachgewiesen werden könne. Die von den Klägern geltend gemachte gesamtschuldnerische Haftung aller Nato-Staaten für derartige Schäden verwarf das Gericht.
Eine Niederlage also, die wir da erlitten haben, eine vorhersehbare womöglich. Vielleicht aber – so sprechen wir uns Mut zu – ein Urteil, das den aktuell vor dem Kölner Oberlandesgericht klagenden Opfern des Luftwaffenangriffs von Kundus im September 2009 nützliche Argumente liefert. Die Varvariner allerdings sehen sich in nachvollziehbarer Weise im Stich gelassen.
Meine Reise musste ich kurzfristig absagen, der ganze Landstrich steht nach den Regenfällen der vergangenen Wochen unter Wasser, Notstandsgebiet. Die vorgesehenen Trauerfeiern wurden abgesagt, ich hätte mehr gestört als geholfen.
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.