Meine Kolleginnen berichten von ihrer jüngsten Reise nach Bangladesch. In Dhaka, der Hauptstadt, und in Sabhar haben sie mit Überlebenden und Familien der Todesopfer des Einsturzes der Textilfabrik Rana Plaza im April 2013 gesprochen. Insgesamt kamen dort weit über tausend Menschen ums Leben. Wollen und können die Betroffenen Entschädigung einklagen, und wenn ja: Wer soll zahlen?
Ähnliche Diskussionen haben wir bereits in Pakistan geführt, dort kamen im September 2012 bei einem Fabrikbrand in Karatschi ebenfalls mehrere Hundert Arbeiterinnen und Arbeiter ums Leben. Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, es nicht nur bei Prozessen gegen die lokalen Fabrikbesitzer oder möglicherweise korrupte Regierungsfunktionäre zu belassen. Wir wollen vielmehr untersuchen, wer in Europa zur Verantwortung gezogen werden kann. Beispielsweise die Billigtextilkette KIK, die in Karatschi produzieren ließ, oder die Auditing-Unternehmen aus Deutschland oder Italien, die beiden Fabriken kurz vor der Katastrophe noch eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellten.
Es wird nicht einfach werden. Denn eines wollen vor allem die Näherinnen auf keinen Fall, dass nämlich juristische Klagen oder politische Kampagnen die für sie existenziell wichtigen Arbeitgeber aus dem Land vertreiben.
Seit Jahrzehnten zieht die Karawane der Billigtextilien immer weiter: Das US-Bekleidungsunternehmen GAP beispielsweise will künftig auch in Myanmar produzieren. Myanmar? Ja Myanmar, da wo bis gestern eine Militärjunta herrschte und heute zwar eine vorsichtige Öffnung zu demokratischeren Verhältnissen zu erkennen ist, aber nach wie vor eine beklagenswerte Menschenrechtssituation herrscht. Der fatale Kreislauf wird nicht unterbrochen: Die Textilindustrie, einmal aus Europa und Nordamerika ausgelagert, sucht ständig neue Produktionsstätten mit möglichst niedrigen Löhnen, niedrigen Menschenrechts-, Arbeits- und Sicherheitsstandards; die Logik des sich weiter globalisierenden Kapitalismus.
Lässt sich also überhaupt etwas ändern, ohne dieses scheinbar unangreifbare Wirtschaftssystem grundlegend umzuwälzen? An welcher Stelle kann man eingreifen, um zumindest die unerträglichen Exzesse dieses Systems abzustellen? Wer könnte die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter ernsthaft verbessern – die UN, die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) in Genf, die Regierungen aus dem Norden, wo die großen Markenunternehmen ihre Hauptquartiere haben, oder die aus dem Süden, wo sie produzieren lassen, die Unternehmen selbst, Nichtregierungsorganisationen, die Masse der Verbraucher, die hiesigen oder die dortigen Gewerkschaften sowie die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst?
Berechtigte Fragen. Doch für die betroffenen Menschen und Familien geht es vordringlich um ihre physische und wirtschaftliche Existenz, denn bei den Katastrophen in den Textilfabriken sind die Haupternährerinnen der Familie gestorben oder arbeitsunfähig geworden. Juristische Verfahren in Deutschland und anderswo sind sinnvoll und notwendig, um wichtige rechtliche Fragen klären zu lassen – zum Beispiel, ob rechtliche Verpflichtungen der hiesigen Unternehmen bestehen. Derzeit setzen die Betroffenen zunächst auf Verhandlungen mit den Unternehmen, in der Hoffnung, dass KIK und die anderen angemessene Entschädigungen zahlen.
Sollte dieser Weg keinen Erfolg bringen, sind wir Juristen gefragt, in Pakistan wie Bangladesch, Deutschland wie Italien – anders als noch vor wenigen Jahren sind wir mittlerweile gut vernetzt und stehen bereit.
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.