Es ist erfreulich: Immer häufiger entscheiden Gerichte aus dem globalen Süden über die Folgen der Aktivitäten europäischer und nordamerikanischer Unternehmen, über Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung. Die Konzerne selbst, aber auch die Staaten, in denen sie ihren Sitz haben, sehen das erwartungsgemäß nicht so gerne. Das vielleicht drastischste Beispiel ist das Urteil des Obersten Gerichtes in Quito in Ecuador, das den US-Erdölkonzern Chevron wegen der Umweltkatastrophe im Amazonas-Gebiet zu 9,5 Millionen Euro Schadensersatz verurteilte. Ein US-Gericht aber verweigerte die Umsetzung des Urteils – der Richterspruch sei durch Bestechung zustande gekommen. Es überrascht nicht, dass Kritik an der Justiz nur dann geübt wird, dass Korruption nur dann angeprangert und rechtsstaatliche Maßstäbe nur dann eingefordert werden, wenn die ausländischen Gerichte gegen die eigenen Unternehmen entscheiden.
Das ist Kolonialismus pur.
Doch auch wir wohlwollenden Juristen und Menschenrechtsorganisationen aus dem Westen müssen aufpassen: Zu oft und zu schnell meinen wir, dass die Lösungen für Menschenrechtsprobleme bei unseren Gerichten liegen UND nur diese unfairen Verfahren zwischen Recht und Unrecht unterscheiden könnten.
Dabei hätten etwa die Obersten Gerichtshöfe von Indien und Südafrika viel mehr Aufmerksamkeit in unserer Öffentlichkeit verdient. Immer wieder beschäftigen sie sich mit den grundlegenden Problemen in ihren Ländern und Gesellschaften. Die sind ganz oft existentieller Art. So definierten Gerichte zum Beispiel das Recht der Menschen auf Nahrung oder auf den Zugang zur Wasserversorgung, und sie tun dies auf neue und moderne Weise.
Diese Woche beschäftigten sich Juristen in Delhi in einer Anhörung mit der massenhaften Verletzung der Rechte junger Frauen und Mädchen durch Medikamententests. Vor zwei Jahren hatte der Spiegel in der eindringlichen Artikelserie „Inder wollen keine Versuchskaninchen sein“ über klinische Studien berichtet, bei denen in den vergangenen Jahren Hunderte Inder gestorben sind. In Indien sind die für die Zulassung von Medikamenten notwendigen Untersuchungen billiger und werden weniger kontrolliert, so dass viele westliche Pharmakonzerne die Tests dort direkt oder über Subunternehmen durchführen.
Gegenstand des aktuellen Prozesses sind die Impfungen von 24.000 Mädchen in den indischen Bundesstaaten Gujarat und Andhra Pradesh gegen das humane Papillomavirus (HPV), welches Gebärmutterkrebs verursachen kann. Ein Regierungsausschuss hatte neben anderen Unregelmäßigkeiten vor allem bemängelt, dass die jungen Frauen nicht ausreichend aufgeklärt wurden und ihre Einwilligung nicht eingeholt wurde. Die 10- bis 14-jährigen Mädchen stammen zu einem erheblichen Teil aus indigenen Gruppen, sie sprechen ihre eigenen Sprachen. Weder sie noch ihre Eltern wurden umfassend in ihrer Sprache und ihrem Bildungsniveau angemessen informiert, zudem willigten in mehreren Fällen Schuldirektoren im Namen ihrer Schülerinnen in die Behandlung ein.
Vordergründig geht es in dem laufenden Verfahren um die verletzten staatlichen Schutzpflichten. Doch dem Human Rights Law Network (HRLN) in Delhi geht es um mehr: Auch die Verantwortlichkeit der Pharmaunternehmen, die von den Ergebnissen der Tests profitieren, soll untersucht werden – die Ressourcen für die Massenimpfungen stellte die Bill & Melinda Gates-Stiftung, die Impfstoffe stammten von den Unternehmen GlaxoSmithKline und Merck.
Auf Anregung von HRLN hat das ECCHR ein Rechtsgutachten bei Gericht eingereicht. Wir wollen die Betroffenen in dem indischen Verfahren juristisch unterstützen, aber zusätzlich den Boden bereiten, um eines Tages auch Klagen in den Herkunftsstaaten der Unternehmen einzureichen. Eine gesundheitlich umstrittene Impfung ohne korrekte Einwilligung der Patienten ist Körperverletzung – uns gestehen westliche Pharmaunternehmen dies ganz selbstverständlich zu, warum aber nicht den Menschen in Indien?
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.