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Burbach ist nicht Guantánamo

 

Wir wissen alle, welche Gefahren drohen, wenn Menschen in geschlossenen Einrichtungen mit ihren Betreuern, Bewachern, Behandlern oder wie sie sich auch immer nennen, ganz alleine gelassen werden. Aus psychiatrischen, geriatrischen oder medizinischen Einrichtungen, Armeeeinheiten oder Haftanstalten auf der ganzen Welt wird immer wieder berichtet, dass staatliche oder nicht-staatliche Bedienstete die Insassen mehr oder weniger stark misshandeln oder gar foltern.

Diese Leidensgeschichten scheinen gerade zu konstituierend für solche Einrichtungen zu sein. In Staaten mit demokratischem und rechtsstaatlichem Anspruch versucht man Vorkehrungen zu treffen, damit sich diese Gefahr nicht realisiert. Ganz wichtig sind dabei eine unabhängige Kontrolle der Anstalten, der Zugang von Dritten, eine interessierte Öffentlichkeit und funktionierende Aufsicht sowie Beschwerderechte und Rechtsmittel. All das fordern Menschenrechtsexperten seit Jahren mit Blick auf US-Hafteinrichtungen im Irak, Afghanistan oder in Guantánamo – und nun auch nach den Übergriffen und Misshandlungen in nordrhein-westfälischen Flüchtlingsheimen.

Der Zugang von Anwälten zu Inhaftierten beispielsweise ist von entscheidender Bedeutung. In Deutschland haben wir – und dies wird im Prinzip kaum bestritten – das Recht, Festgenommene kurz nach der Festnahme in Polizeihaft oder Untersuchungshaft zu sehen und zu sprechen. Außerdem sind Inhaftierte binnen relativ kurzer Fristen Richtern vorzuführen.

Doch auch hier kommt es zu Problemen, so wie es der Bundesgerichtshof vor wenigen Wochen in seinem Urteil zu Oury Jalloh festgestellt hat. Jalloh wurde eben gerade nicht dem Richter vorgeführt, bevor er in seiner Zelle verbrannte. Problematisch sind auch Massenfestnahmen bei größeren Protesten, wenn keine Vorkehrungen getroffen wurden, dass den Menschen zeitnah eine richterliche Anhörung gewährleistet wird – oder wenn das entsprechende Recht der Protestler schlicht missachtet wird.

Incomunicado-Haft, also Haft ohne Zugang von oder nach außen: Das ist in vielen Ländern eine Einladung an Polizeibeamte und Ermittler, diese Zeitspanne zu nutzen, um Geständnisse mehr oder weniger gewalttätig zu erzwingen. Die Menschenrechtsberichte oder Schilderungen von Anwälten, die später Zugang finden, belegen eine eindeutige Korrelation zwischen Incomunicado-Haft und Misshandlung.

Nicht nur bei uns Anwälten blinken in solchen Fällen sofort die Alarmleuchten. Daher gilt es, allen Versuchen entschieden entgegenzutreten, diese Zeitspanne ohne anwaltliche Betreuung auch bei sogenannten Terrorverdächtigen auszudehnen.

Bei Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht hinreichend über ihre Rechte informiert sind oder ihre Rechte nicht gut genug kommunizieren können, gilt besondere Vorsicht. Bei Nichtdeutschen oder Flüchtlingen zum Beispiel. Abschiebehaftanstalten gehören abgeschafft: Menschen, die kein Unrecht begangen haben, die der deutsche Staat aber schnellstmöglich loswerden will, dürfte die Freiheit überhaupt nicht entzogen werden. Aber auch, weil sich Berichte über menschenrechtswidrige Zustände in Notunterkünften und Flüchtlingsheimen, also noch nicht einmal in Abschiebehaft, häufen. Zuletzt waren es Berichte über Misshandlungen durch private Wachleute, sogenannte Sicherheitsdienste (wann hören wir auf, diesen euphemistischen Begriff zu gebrauchen?).

Die erste, relativ schnelle Reaktionen der rot-grünen Landesregierung, aber auch der CDU in Nordrhein-Westfalen und der Polizeigewerkschaft, lassen hoffen, dass die Staatsanwaltschaften sorgfältig ermitteln werden. Am Ende jedoch stehen im Gerichtssaal zumeist deutsche Wachmänner nichtdeutschen Zeugen gegenüber. Und da tendieren deutsche Staatsanwälte und Richter oft dazu, den sogenannten Ordnungshütern Glauben zu schenken oder sie jedenfalls zumindest nicht zu verurteilen.

Die Übergriffe in Siegen und Essen sind grausam und erschreckend, aber ist das schon Guantánamo? Nicht wirklich. Die Selbstinszenierung der Wachleute und das rassistische Potenzial der Übergriffe mögen einen daran erinnern, aber es gibt strukturelle Unterschiede: In Guantánamo saßen und sitzen Menschen allein wegen des Verdachts des Terrorismus jahrelang ohne Anklage, ohne Anwalt, mehr als hundert von ihnen nun schon über zwölf Jahre. Diese Gefangenen wurden systematisch gefoltert und gebrochen. Den geistigen und politischen Architekten des Gefangenenlagers kam es gerade darauf an, einen als solchen behaupteten rechtsfreien Raum ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistandes oder Gerichtsverfahren auszunutzen. Soweit sind wir hier lange nicht – und wir sollten es auch nicht dazu kommen lassen.

Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.