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Bin ich naiv?

 

Ein Abend in Berlin unter Freunden, alles Anwältinnen und Anwälte. Schnell ist man geneigt, sich in der gleichen Situation zu sehen, wir teilen viele politische Auffassungen und setzen uns alle für die Menschenrechte ein.

Doch dann spricht der Kollege über die Wohnungssituation in Bombay. Seine Organisation, das Human Rights Law Network, hat seinen Sitz in der Nähe des Gerichtes der Stadt. Ständig treten sie vor Gericht auf, um die Rechte derer durchzusetzen, die in der größten Demokratie der Welt so gut wie nie zu ihrem Recht kommen – und das sind viele: indigene Gemeinden, die mit Industrie-, Infrastruktur – oder Minenprojekten konfrontiert sind; die unteren Klassen; die Dalit, die Unberührbaren; Frauen; Häftlinge; und viele mehr. Keiner seiner Kollegen und Kolleginnen kann sich eine Wohnung in der Nähe des Büros leisten, dazu verdienen sie zu wenig, selbst als Anwälte, aber eben Anwälte, die für diejenigen arbeiten, die fast nichts haben und daher auch fast nichts zahlen können.

Er selbst, ein Mittdreißiger mit viel Berufserfahrung, hat bis vor kurzem in einem Hostel gewohnt, um nicht jeden Tag zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück fahren zu müssen. In einem Raum von der Größe meines Wohnzimmers wohnte er mit drei anderen zusammen. Nicht einmal ein eigenes Zimmer – ich fühle mich ob meines Luxus ertappt.

Dann reden wir über die Geschichte. Gandhi, der Kämpfer für die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht England, Vorbild für zivilen Ungehorsam, ist ein erstaunlich hartnäckiger Mythos – näher betrachtet aber eine Geschichte der Entzauberung, so erzählen es in letzter Zeit einige Autoren wie der Historiker Perry Anderson oder Arundathi Roy. Es ist vor allem das Kastensystem, das 1947 offiziell abgeschafft wurde, das uns immer wieder aufstößt. Selbst der in der westlichen Öffentlichkeit so hochgeschätzte Gandhi hat die Segregation nach Kasten nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Und auch im heutigen modernen Indien mit seiner rasanten technologischen Entwicklung werden Millionen Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu den niederen Kasten auf das Schlimmste diskriminiert.

Unsere Kollegen erzählen von Dalit-Gemeinden, die seit Generationen und ohne Aussicht auf Veränderung die schmutzigsten Arbeiten verrichten, etwa die Entsorgung menschlicher und tierischer Exkremente. Tagelöhner erhalten für ihre Arbeit keinen Lohn, sondern lediglich Weizenreste und Körner, die im Tierdung kleben bleiben und die bei der Arbeit aufgeschreckten Schlangen als „Bezahlung“ in Naturalien. Auch den städtischen Mittelschichten scheint diese gesellschaftliche Rollenverteilung normal und in Ordnung. Emanzipationsversuche der Dalit stoßen auf Widerstand und provozieren sogar Gewalt, vor allem Gewalt gegen Frauen.

Niederschmetternd sind auch die ersten Monate der Regierung von Premierminister Narendra Modi. In einem Staat, der aus unzähligen unterschiedlichen geografischen Regionen zusammengesetzt ist, eine Vielfalt von Religionen, Sprachen und Kulturen aufweist, versucht die Partei des Hindu-Nationalisten Modi ihre Philosophie der hinduistischen Überlegenheit mit einer ungeheuren Wucht durchzusetzen. Zum Teil mit absurden Diskursen und Ideen wie die, dass Muslime den Hindus nur überlegen seien, weil sie mehr Fleisch essen dürften, Rindfleisch nämlich, dessen Konsum den Hindus aus religiösen Gründen verboten ist – deswegen müsse der Fleischkonsum der Muslime durch Verbote eingeschränkt werden. Ein Spiel mit dem Feuer.

Bin ich naiv, wenn ich trotz all dieser Geschichten immer noch ungläubig nachfrage? Nein, es ist der Wunsch nach Veränderung, der aus mir spricht. Und dieser Wunsch ist es auch, der uns europäische, lateinamerikanische und indische Kolleginnen und Kollegen am Tisch unabhängig von den so unterschiedlichen Bedingungen verbindet und mehr: gemeinsam Wege finden, Realitäten zu verändern, die inakzeptabel ist.