Abseits der großen – und notwendigen – Auseinandersetzungen um die deutsche NS-Geschichte und der Schlussstrich-Appelle von Politikern tut sich in diesem Bereich gerade vieles auf lokaler Ebene. So muss man derzeit monatelang warten, bis man vom Kölner Bildhauer Gunter Demnig einen Termin bekommt, um einen der von ihm entworfenen Stolpersteine zu verlegen – Gedenksteine aus Messing, eingelassen in den Bürgersteig, mit dem an deren letztem selbstgewählten Wohnort der Opfer der NS-Zeit gedacht wird. Nachbarschaftsinitiativen, Schulen, Verwandte und andere Menschen, die auf die Lebensgeschichten von Ermordeten gestoßen sind, lassen auf diese Weise Monat für Monat, Jahr für Jahr Hunderte von Steinen in der ganzen Republik verlegen. Wie wichtig diese Art von Gedenken ist, merken wir, wenn wir ausländischen Besuchern, denen die Steine auffallen, erklären, was diese bedeuten. Die Gedenksteine sind eine nur scheinbar kleine Geste mit großer Bedeutung, die uns im Alltag regelmäßig über den von Deutschland ausgegangenen, millionenfachen Mord stolpern lässt und dazu aufruft, uns immer wieder mit diesem Teil der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Wie viel diese Geste für die Verwandten von Menschen, derer auf diese Weise gedacht wird, bedeuten kann, erfuhren Freunde und ich vor wenigen Monaten, als wir in der Heinrich-Roller-Straße in Berlin-Prenzlauer Berg des Ehepaares Emma und Elias Spet gedachten und deren Angehörigen in den USA ein Video von der Verlegung des Stolpersteines übermittelten.
Ein weiteres wichtiges lokales Geschichtsprojekt beschäftigt sich mit der Euthanasie in Berlin-Buch: Dort wird seit über fünf Jahren auf verschiedene Weise an die Menschen erinnert, die in den damaligen „Heilstätten“ in Buch und anderswo bei der sogenannten T-4-Aktion (benannt nach der Tiergartenstraße 4, dem Planungszentrum des NS-Euthanasieprogramms) durch Gas ermordet wurden, weil die Nationalsozialisten sie für lebensunwürdig erklärten. Den Anstoß zu diesem Gedenken gaben nicht etwa staatliche Stellen oder Mediziner, sondern lokale Initiativen um die mittlerweile 83-jährige Rosemarie Pumb. Die Arbeitspsychologin im Ruhestand forscht seit Jahren zu den etwa 3.000 Menschen, die von Buch aus an die Tötungsstätten verlegt wurden, wo sie vergast wurden.
Zuletzt wurde vor Kurzem in der Bibliothek des – noch heute bedeutenden Medizin-Standortes Buch – eine Multimediastation eingerichtet, die die Täter des Euthanasieprogramms in den Vordergrund rückt. Denn um den perfiden Tötungsbefehl Hitlers von 1939 umzusetzen, bedurfte es der Mitarbeit von Tausenden von Ärzten und Angehörigen des medizinischen Personals, in deren Obhut die später Ermordeten standen. Auch die Bevölkerung schaute weg. Der Journalist Ernst Klee hat in seinen Büchern die Komplizenschaft der Mediziner sowie die Kontinuität der dahinter stehenden Ideologien und die Straflosigkeit für diese Verbrechen in Westdeutschland nach 1945 beschrieben. Doch ebenfalls im Ost-Berliner Buch wurde niemand für den Massenmord bestraft, zu opportunistisch war auch in der DDR der Umgang mit den NS-Tätern. So konnte zum Beispiel Dr. Wilhelm Bender aus dem engsten Kreis der Euthanasie-Planer nach dem Krieg Leiter der Heil-und Pflegeanstalt Wuhlgarten werden.
Rosemarie Pump wurde lange als Nestbeschmutzerin denunziert, doch in den letzten Jahren hat ihr Wirken Erfolg gezeigt. Auf dem Campus des Hufeland-Krankenhauses wurde eine Dauerausstellung eingerichtet und in einem nahegelegenen Waldstück wurde ein Mahnmal für die in Bucher Krankenhäusern an Mangelversorgung gestorbenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern errichtet. Ein Blog- und Filmprojekt von Schülern der Hufeland-Gesamtschule zur Geschichte der Euthanasie in Buch wurde 2012 vom Land Berlin ausgezeichnet. Somit ist in Buch durch engagierte Menschen um Frau Pumb eine Auseinandersetzung mit der Ethik der Ärzteschaft im Nationalsozialismus angestoßen worden, die seit 70 Jahren notwendig ist, aber nie geführt wurde.
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.