Mexiko-Stadt im Mai 2015. 2008 präsentierte die Regisseurin Christiane Burkhard mit ihrem Film Trazando Aleida dem mexikanischen Publikum ein unbeachtetes Kapitel seiner Geschichte. Burkhard erzählt darin die Geschichte einer jungen Frau, Aleida, die Mitte der 2000er Jahre erfährt, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen sind und darauf aufmerksam wird, dass ihre leibliche Großmutter sie und ihren Bruder sucht. Die Eltern der beiden, so die Aussage der Großmutter, sind „Verschwundene“ in dem schmutzigen Krieg, den auch Mexiko gegen Oppositionelle in den 1970er Jahren führte, die Art der Aufstandsbekämpfung, die wir aus fast allen Ländern Lateinamerikas der damaligen Epoche kennen. Die Filmemacherin geht auf doppelte Suche: Gemeinsam mit Aleida forscht sie nach dem Verbleib ihres Bruders, findet ihn schließlich in Washington, und sie folgen im mexikanischen Bundesstaat Guerrero den Spuren von Aleidas Eltern, die dort in einer Landguerilla aktiv waren.
Die damalige Repression in Mexiko erreichte nicht die Dimension der zeitgenössischen Diktaturen in Argentinien oder Chile. Zudem gab sich Mexiko nach außen stets progressiv, bot den linken Exilanten aus ganz Lateinamerika Zuflucht. Das Land wurde seit den 1920er Jahren von der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) in einer Weise regiert, die der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa einmal als die perfekte Diktatur bezeichnet. Gegen Ende der 1980er öffnete sich die politische Landschaft, soziale Bewegungen außerhalb der etablierten Parteien entstanden. Ein Funken Hoffnung.
Die heutige Situation in dem mittelamerikanischen Land lässt den Betrachter hingegen oft hoffnungslos zurück. Es sind nicht nur das Massaker an den Studenten von Ayotzinapa im September 2014 und andere zahlreiche Massaker, wie die an Flüchtlingen aus Guatemala, El Salvador und Honduras, die auf der Durchreise in das gelobte Land USA in Mexiko zahlreichen Gefahren und Brutalitäten ausgesetzt sind. Das Problem ist komplexer geworden: In der Vergangenheit übte ein autoritärer Staatsapparat Gewalt, mitunter exzessive Gewalt, aus, um die widerständigen Teile der Bevölkerung zu kontrollieren. Heute weiß man schlicht nicht, welchen Akteuren die Zehntausende von Toten und mehr als 20.000 Verschwundenen der letzten Jahre zuzurechnen sind. Der mexikanische Staat verfügt schon lange nicht mehr über das Gewaltmonopol und muss bestimmte Territorien den kriminellen Banden überlassen. Transnationale Unternehmen wiederum nutzen diese Konstellation, um sich Land und Rohstoffe anzueignen. Eine wahrhaft verfahrene Situation.
Doch es gibt wieder Anlass zur Hoffnung: Der Protest gegen das Verschwindenlassen und die Ermordung der Studenten ist nicht nur im eigenen Land gewaltig, auch im Ausland wächst die Solidarität mit den Opfern und damit auch der Druck auf die neoliberale Regierung von Präsident Peña Nieto. Dieser Tage begegne ich bei den Podiumsdiskussionen in mehreren Universitäten und bei Treffen mit Menschenrechtsaktivisten in Mexiko vielen jungen Menschen, aber auch gestandenen Anwältinnen und Anwälten, die sich aktiv politisch und juristisch gegen die Menschenrechtsverletzungen einsetzen. Sie alle, aber ebenso die Zehntausende von Betroffenen von Folter, Landraub und Ausbeutung, riskieren viel in diesem gefährlichen Land. Deswegen müssen sie beim Aufbau eines demokratischen und nicht-korrupten Rechtsstaates unterstützt werden. Auch wir in Europa können dazu unseren Teil leisten: Deutschland sollte jede fragwürdige Zusammenarbeit mit der mexikanischen Regierung, wie beispielsweise die skandalöse Kooperation der deutschen Polizei mit ihren mexikanischen Kollegen, aufkündigen, den Waffenexport in das mörderische Land gänzlich stoppen und die in Europa ansässigen Unternehmen bei ihren Aktivitäten in Mexiko stärker kontrollieren. Die allgegenwärtige Gewalt und die Massaker unserer Zeit dürfen nicht wie die „Verschwundenen“ der 1970er Jahre ein unbeachtetes Kapitel der mexikanischen Geschichte werden.