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Die fragwürdigen Geständnisse von Iguala

 

Mexiko lässt mich nicht los. In meinen letzten Stunden in der Hauptstadt erlebe ich deren schöne Seite im Park Alameda de Santa María im idyllischen Altstadtviertel Santa María la Ribera. Von den Drogenproblemen rundum ist hier nichts zu spüren: Skater und Fußballer, im Hintergrund ein Gitarrist und neben mir auf der Bank José María Fuentes. Er ist seit 15 Jahren obdachlos und dennoch ein unverbesserlicher Optimist, viel Schönes habe er erlebt, nur wenige schlimme Dinge, er sei zufrieden mit seinem Leben.

Wenig später sitze ich – immer noch frohgemut – im Flugzeug nach Paris, da holen mich mexikanische Zeitungen wieder in die dunkle Realität des Landes zurück. An einem ganz normalen Mittwoch ist La Jornada, ein etwas linkeres Blatt, voll von Ungeheuerlichkeiten: verfolgte Journalisten, rassistische Beamte, Gewalt gegen mittelamerikanische Flüchtlinge, willkürliche Verhaftungen und Foltervorwürfe gegen die Polizei. Und dann ein langer Artikel der Investigativreporter der Zeitschrift Proceso über das Massaker und die seit September 2014 immer noch „verschwundenen“ Studenten aus Iguala im Bundesstaat Guerrero. Die Hauptakteure des Stücks, das sich wenig anders liest als der neueste Roman von Don Winslow, Das Kartell, sind: ein Generalstaatsanwalt, ein Haufen verhafteter Polizisten und „Sicherheitsleute“ – sowie eine deutsche Waffenfirma.

Nach den erschütternden Ereignissen von Iguala mussten die mexikanischen Behörden etwas unternehmen, irgendetwas. In einem halbwegs funktionierenden Rechtsstaat wären solche Gewalttaten zunächst gar nicht vorstellbar. Aber gesetzt, sie passieren einmal, haben die staatlichen Organe die Pflicht, umfassend zu ermitteln und die Strafverfolgung gegen die Verantwortlichen einzuleiten. Nach außen sieht es auch in Mexiko danach aus: Nach dem 26. September 2014 werden insgesamt 99 Personen verhaftet, viele legen Geständnisse ab, und der Generalstaatsanwalt Murillo Karam stellt sich am 27. Januar 2015 vor die Presse und präsentiert nicht mehr und nicht weniger als „die historische Wahrheit“.

Wertvolle Zeit für die Sicherung von Beweisen verschwendet

Die Reporter von Proceso haben sich die Akte etwas genauer angeschaut und kommen zu erschreckenden Ergebnissen. Da ist zum Beispiel der Fall der Brüder Miguel Angel und Osvaldo Ríos Sánchez, zwei ambulante Kleiderverkäufer, die am 8. Oktober 2014 weit entfernt vom Tatort aufgegriffen und per Hubschrauber nach Iguala geflogen werden. Einen Tag später stellen Mediziner bei Miguel Angel 10 und bei Osvaldo 14 Verletzungen fest. Sie seien gefoltert, geschlagen, mit Elektroschocks malträtiert worden und hätten Plastiktüten über den Kopf gezogen bekommen, erzählen die beiden später ihren Verlobten. Schließlich gestehen die Brüder, an den Studentenmorden beteiligt gewesen zu sein – sie gestehen, wie auch viele andere Festgenommene in dem Fall gestehen. Allerdings: Die Aussagen der vielen „Geständigen“ widersprechen sich, stellen die Journalisten fest.

Aus diesen erpressten Aussagen lässt sich nichts herleiten. Sie sind auch nicht verwertbar, weil nationale Gesetze und die UN-Anti-Folterkonvention die Verwendung erfolterter Informationen vor Gericht verbieten. Ohnehin sind die Aussagen wertlos. Menschen, die derartiger Behandlung unterzogen werden, erzählen ihren Peinigern alles, was diese hören wollen.

Acht Monate nach Iguala also nichts, nada; vielmehr wurde wertvolle Zeit für die Sicherung von Beweisen verschwendet. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission fordert deswegen die mexikanischen Behörden auf, die Ermittlungen von vorn zu beginnen und neuen Ermittlungslinien nachzugehen – eine vernünftige Forderung. Natürlich sollten jetzt zunächst in Mexiko alle Mittel ausgeschöpft werden. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission oder der Internationale Strafgerichtshof stünden vor dem Problem, dass sie vor Ort schwer ermitteln könnten und auf die Kooperation der Mexikaner angewiesen wären. Dennoch scheinen der Druck und die Intervention von außen notwendig, um den 43 Studenten und ihren Angehörigen wenigstens annähernd Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Ach ja, die deutsche Waffenfirma: Das in Mexiko erwirtschaftete Drogengeld wird zu einem erheblichen Teil in Waffen angelegt, die aus den USA geliefert werden und den Konflikt weiter befeuern. Doch auch die Heckler & Koch GmbH aus Deutschland lieferte Waffen nach Mexiko: Mehrere im Fall Iguala verhaftete und des Mordes verdächtige Polizisten trugen Gewehre der deutschen Firma mit sich.

Deutsche Waffen in Iguala – das ist ein klarer Verstoß gegen das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz. Heckler & Koch lieferte, obwohl das Wirtschaftsministerium Rüstungsexporte in die Krisenregionen Chiapas, Chihuahua, Jalisco und Guerrero nicht genehmigt hatte. Doch die deutschen Behörden haben die Lieferungen nach Mexiko nie kontrolliert.