Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Mehr Wut über die Gewalt an Europas Grenzen!

 

Wut und Ärger gehören zum Alltag unserer Arbeit als MenschenrechtsjuristInnen. Aber bei aller Fassungslosigkeit angesichts bestimmter Menschenrechtsverletzungen dürfen wir doch die Beherrschung nicht verlieren. Beherrschung ist unverzichtbar, weil wir juristisch gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen versuchen und dies nur mit klarem Verstand möglich ist.

Manchmal ist das schwer. So war es für mich kaum zu fassen, als ich erstmals von den Schüssen der spanischen Guardia Civil mit Gummigeschossen auf schwimmende Migranten an der marokkanisch-spanischen Grenze von Ceuta am 6. Februar 2014 hörte. Am betreffenden Grenzübergang stehen Willkommensgruß und Wappen des Friedensnobelpreisträgers von 2012, der Europäischen Union – kurz bevor sie das Territorium ebendieser Union erreichten, starben an jenem 6. Februar fünfzehn Migranten im Wasser des Mittelmeeres.

Immerhin wurde, wenn wohl auch nur aufgrund der Initiative von spanischen Nichtregierungsorganisationen, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren in Ceuta eingeleitet. Auch wir vom European Center for Constitutional and Human Rights beteiligten uns daran.

Nicht dass wir besonders optimistisch gewesen wären, denn bisher waren alle Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen an der Grenze von der spanischen Justiz eingestellt worden. Doch angesichts von fünfzehn Toten dachten wir schon, dass sich die Justiz bemühen würde, den Anschein einer sorgfältigen Untersuchung zu wahren. Ich möchte nicht glauben, dass die dortige Justiz sich nicht um die Toten kümmert, nur weil es sich um Schwarze aus Ländern südlich der Sahara handelt. Aber auch wegen der großen öffentlichen Aufmerksamkeit und weil am Ende der Instanzenkette der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg droht, erwartete ich Aktivitäten, die man – jedenfalls nach außen – als eine professionelle, rechtmäßige und umfassende Untersuchung ausgeben kann. So, wie wenn es sich bei den Opfern um deutsche oder englische Touristen gehandelt hätte.

Doch die Ermittlungsrichterin von Ceuta, Maria del Carmen Serván, stellte nunmehr das Verfahren gegen 16 Angehörige der Guardia Civil ein. Den Gebrauch von Gummigeschossen und Tränengas, die die Polizisten vom Strand aus auf heranschwimmende Flüchtlinge abschossen, sah sie nicht als illegal an. Besonders aussagekräftig für die Zustände an der Grenze von Ceuta ist ihr Argument, dass nicht sicher feststellbar sei, ob die in den folgenden Tagen angeschwemmten Leichen tatsächlich Betroffene des Vorfalls vom 6.2.2014 waren. Hilfe nach den internationalen Konventionen, so die furchtbare Juristin aus Ceuta, hätten die Menschen deswegen nicht gebraucht, weil sie sich selbst dem Risiko einer illegalen Grenzüberschreitung ausgesetzt und dabei den Schutz der Nacht ausgenutzt hätten.

Ihr Ermittlungsverfahren entspricht sicherlich nicht den Standards, die das europäische Recht für derartige Fälle vorsieht. Wir haben deshalb Hoffnung, dass das Provinzgericht oder das oberste spanische Gericht die Entscheidung aufhebt und weitere Ermittlungen anordnet. Allerdings kommt es in einem solch heiklen Ermittlungsverfahren darauf an, Beweise möglichst schnell und umfassend zu sichern, und genau dieses ist im Fall von Ceuta nicht passiert – der Schaden ist also bereits angerichtet.

Einmal mehr zeigt sich, dass nicht nur die europäischen Polizeibehörden als Vollstrecker eines unmenschlichen Grenzregimes seit Jahren Menschenrechte verletzen; sie werden dabei noch von der Justiz gedeckt. Das Recht auf Rechte afrikanischer Flüchtlinge muss daher nicht nur gegen europäische Politiker und Polizisten, sondern allzu oft auch gegen europäische Staatsanwälte und Richter durchgesetzt werden.

Um diesen Kampf zu führen, braucht es natürlich unser aller Verstand, unsere professionelle Beherrschung – aber auch viel mehr Wut!