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Glyphosat: Die organisierte Blindheit

 

Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt Christian Schliemann. Er ist im Programmbereich „Wirtschaft und Menschenrechte“ des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin tätig und beschäftigt sich u.a. mit der Verantwortlichkeit von Unternehmen für die Schäden durch Pestizide.

In den vergangenen zwei Wochen mussten wir mit Erschrecken miterleben, wie die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit ihren gesetzlichen Auftrag wahrnahm und ein international sehr umstrittenes Pflanzenschutzmittel als unbedenklich einstufte. Die europäischen Funktionäre agierten auf Grundlage einer Bewertung ihrer deutschen Amtskollegen, die den Pestizidwirkstoff Glyphosat als „wahrscheinlich nicht krebserregend“ einschätzten und keine sonstigen Gründe gegen die Verlängerung der Zulassung dieses Pflanzenschutzmittels sahen. Eine waghalsige Behauptung, wenn man bedenkt, dass die Internationale Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im März 2015 zu dem Schluss gelangte, Glyphosat sei „wahrscheinlich krebserregend“. Das gesundheitsschädliche Potenzial von Glyphosat macht schon lange weltweit Schlagzeilen. Argentinien berichtet über hohe Krebsraten in landwirtschaftlichen Gebieten, die aus der Luft mit Glyphosat besprüht werden, Sri Lanka verbietet Glyphosat wegen Zusammenhangs mit chronischen Nierenerkrankungen, ebenso El Salvador und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Hinter dem Neuantrag in Europa steht die „Glyphosat Task Force“, die große Namen der Pestizid-Industrie von Syngenta über Dow bis Monsanto vereint. All diese Unternehmen bieten Produkte mit Glyphosat an und diese sind Bestseller im wahrsten Sinne des Wortes. Hinter der Wiedergenehmigung des umstrittenen Pflanzenschutzmittels stehen also Milliardengewinne und eine erhebliche Lobbyarbeit der Industrie. So weit, so schlecht. Die Firmen operieren global, die europäischen Behörden verhalten sich provinziell. Dies ist gewollt und im Genehmigungsprozess so angelegt. Die Unternehmen suchen sich einen EU-Staat aus, dessen Behörde ihren Antrag bewertet. Maßgebliche Grundlage der Einschätzung der Behörde sind Studien der Hersteller selbst und deren Bewertung anderer unabhängiger Studien, quasi als Serviceleistung für die Behörde. Außerdem wird nur der Wirkstoff geprüft, nicht das Endprodukt, ein Gemisch mit weiteren Stoffen. Es ist die organisierte Blindheit gegenüber anderen Aspekten als der Vermarktung industrieller Landwirtschaft

Was hat all dies mit den Menschenrechten zu tun? Viel, denn der wissenschaftliche Streit spielt mit den Rechten auf Gesundheit, Leben und auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Eine Lösung bietet das menschenrechtliche „Vorsorgeprinzip“. Dieses sieht vor, dass bei Gefahr irreversibler Schäden für Mensch und Umwelt ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit nicht als Entschuldigung dafür dienen darf, keine schützenden Maßnahmen zu ergreifen. Deswegen beschloss 2002 ein Gericht im Bundesstaat Kerala (Indien) in einem bemerkenswerten Urteil ein vorübergehendes Verbot für das Pestizid Endosulfan. Zwischen den zwei möglichen Alternativen seien die Folgen abzuwägen und das kleinere Übel zu wählen. In ihrem Urteil erklärten die Richter, die Versorgung mit Pestiziden werde mit dem Verbot dieses einen Produktes nicht gänzlich zusammenbrechen. Die wirtschaftlichen Einbußen des Unternehmens seien hinnehmbar verglichen mit den möglichen Schäden an Mensch und Natur. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Das Verfahren in Indien war das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit von Umwelt- und Gesundheitsaktivisten mit Juristen. Und es blieb nicht bei dem Urteil in Kerala: Die Aktivisten und Anwälte erstritten die gleiche Entscheidung auch vor dem indischen Supreme Court und auf internationaler Ebene im Rahmen der Stockholm Konvention über organische Schadstoffe. Eine gelungene Aktion im Sinne einer Globalisierung von unten! In Europa, hier und jetzt, muss letztlich noch die Europäische Kommission über die Verlängerung der Zulassung von Glyphosat entscheiden. Das Vorsorgeprinzip gibt bereits die Antwort und europäische Umwelt-, Gesundheits- und Rechtsaktivisten könnten den juristischen Weg nach indischem Vorbild auch in Europa gehen. Ein Erfolg wäre durchaus möglich. Im Juli 2007 versagte der Europäische Gerichtshof, der sonst nicht gerade für seine Kritik an den Gefahren industrieller Landwirtschaft bekannt ist, die Verlängerung der Zulassung für den Wirkstoff Paraquat – trotz behördlicher Befürwortung und nicht zuletzt unter Verweis auf das Vorsorgeprinzip.