Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt Eva Bitran. Sie arbeitet im Programm „Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung“ des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und hier insbesondere zum Thema Flucht und Migration. Eva Bitran war in den vergangenen Wochen zwei Mal im Geflüchtetenlager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze.
Verzweiflung, Elend und Verunsicherung: Das waren und das bleiben die Hauptkennzeichen des Lebens ins Idomeni, einem kleinen griechischen Dorf nahe der Grenze zur Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien. Das Städtchen hat sich im Laufe der Zeit von einer Durchgangsstation auf der Route nach Westeuropa in ein semi-permanentes Lager für mehr als zehntausend Flüchtlinge verwandelt, die auf halbem Weg steckengeblieben sind. In dieser Woche durchläuft Idomeni eine weitere Verwandlung, denn die griechische Polizei hat damit begonnen, das Lager zu räumen.
Seit dem vergangenen Sommer haben die Länder an Europas Peripherie eines nach dem anderen ihre Grenzen für Migranten und Flüchtlinge geschlossen. Als erstes schloss Ungarn seine Grenze mit einem Zaun. Im November 2015 verweigerten die Regierungen von Slowenien, Serbien, Kroatien und Mazedonien all jenen die Durchreise, die keine syrischen, irakischen oder afghanischen Papiere hatten. Mazedonien errichtete an der Grenze ebenfalls einen Zaun nahe Idomeni. Am 8. März 2016, unmittelbar nach dem Europäischen Gipfel von Brüssel und der auf ihn folgenden Schließung von Grenzen von Serbien bis Österreich, wurde auch die griechisch-mazedonische Grenzen für geschlossen erklärt. Tausende Asylsuchende steckten fortan fest, ohne echte Möglichkeit, Asyl zu beantragen, und ohne Gelegenheit, gegen Verletzungen ihrer Rechte vorzugehen. Die Europäische Union und ihre Nachbarstaaten haben auf diese Weise fundamentale Menschenrechte und Flüchtlingsrechte ausgesetzt.
Das Resultat ist eine humanitäre Katastrophe auf europäischem Boden. Was jedem Besucher in Idomeni als erstes ins Auge fiel, ist die Anzahl der Kinder: Tausende von ihnen rannten im Schlamm umher, während der Wind sie mitunter fast umwarf. Schutz fanden und finden sie noch vor allem in improvisierten Zelten, die für das regnerische, windige Frühlingswetter nicht geeignet sind. Die Schlangen an der Essensausgabe, vor den Duschen und bei der medizinischen Routineuntersuchung sind und waren lang. Feuer gegen die klamme Kälte werden mit allem am Leben gehalten, was sich finden lässt. Alle husten.
Das erste Mal besuchten ich und meine Kollege vom ECCHR in Berlin das Lager im März, zwei Wochen nachdem die Grenze offiziell geschlossen worden war und eine Woche nach dem so genannten “Marsch der Hoffnung” vom 14. März 2016. Mehr als zweitausend Flüchtlinge umgingen damals den Zaun und schafften es nach Mazedonien, wobei sie einen Fluss überwanden, und schließlich in dem Dorf Moin landeten. Dort wurden sie von mazedonischer Polizei in gepanzerten Fahrzeugen und Kampfmontur aufgehalten. Journalisten und Aktivisten wurden aus der Gruppe heraus getrennt und festgenommen, während die Migranten – nach etlichen Stunden in der Kälte – in Lastwagen verfrachtet wurden, die sie an die griechische Grenze brachten, und wo man sie zwang, die Grenze wieder zu übertreten – einige durch ein Loch, das extra zu diesem Zweck in den Zaun geschnitten wurde.
Obwohl dies die größte kollektive Ausweisung in der jüngeren europäischen Geschichte war, stellt sie keinen Einzelfall dar. Solche ungesetzlichen und gewaltsamen Zurückdrängungen fanden in Idomeni und finden an anderen Punkten entlang der europäischen Außengrenzen fast jede Nacht statt.
Solche Massendeportation – die der Europäischen Menschenrechtskomvention widersprechen – nehmen den Migranten praktisch jede Möglichkeit, ihre Anliegen von einem europäischen Gericht überprüfen zu lassen. Das ist eine klare Einschränkung ihrer Rechte, gegen die sich nur wenige Migranten wehren.
Zwei Männer aus Mali und der Elfenbeinküste haben es 2015 getan. Mit Unterstützung des ECCHR reichten sie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde gegen Spanien ein wegen einer Zurückdrängung, die ihnen an der spanisch-marrokanischen Grenzen widerfahren war.
Sechs Wochen später, Mitte Mai, waren wir erneut in dem Lager. Die Stimmung hatte sich verändert, aber die Unsicherheit bestand weiter. Viele Migranten – darunter Familien, Kinder und Großeltern, Architekten, Ingenieure und Anwälte – unterziehen ihre verbliebenen Möglichkeiten einer Neubewertung und suchen nach dem am wenigsten tödlichen Weg nach vorne. Wir sprachen mit einer vierköpfigen Familie, die fünf Mal versucht hatte, nach Mazedonien zu gelangen, dabei jedes Mal einen Schmuggler bezahlt hatte, und doch jedes Mal wieder zurückgedrängt wurde. Viele, die zurückkehrten, sind von der mazedonischen Polizei geschlagen worden, einer hatte sogar Brandwunden. Ein anderes Paar, das zwei Söhne an die Streitkräfte des syrischen Machthaber Assad verloren hatte und mit seiner Tochter geflohen war, wurde ebenfalls in einer Massendeportation von Mazedonien aus zurückgedrängt. “Wir können nicht weiterreisen, wir können nicht zurück, wir können nicht hier bleiben”, sagte der Vater.
Die Masse der Flüchtlinge ist frustriert. Im Zuge des Deals zwischen der EU und der Türkei können jene Asylsuchenden, die vor dem 20. März in Griechenland ankamen, Asyl, Familienzusammenführung oder Umsiedlung innerhalb Europas beantragen. Um das zu tun, müssen sie einen Skype-Account innerhalb eines bestimmten Zeitfensters anwählen, welches sich ein oder zwei Mal wöchentlich öffnet, je nach Sprache und Aufenthaltsort des Antragstellers. Um das tun zu können, müssen sie Internetzugang und selbst ein Skype-Account haben, und, noch wichtiger: sie müssen auch durchkommen.
Nicht ein einziger der Asylsuchenden, die wir getroffen haben, kannte jemanden, dem eine Verbindung geglückt war. Sie werden systematisch ihres grundlegenden Rechts beraubt, Rechte zu haben.
Selbst wenn sie es schaffen, den Kontakt herzustellen, verbessern sich ihre Aussichten nicht. Laut “Welcome to Europe“, wurden “von den 66.400 Flüchtlingen, die die EU innerhalb der kommenden zwei Jahre von Griechenland in andere europäische Staaten umsiedeln wollte, zwischen November 2015 und März 2016 gerade einmal 584 umgesiedelt; 208 weitere wurden seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals umgesiedelt.”
Seit die Grenze geschlossen wurde, haben die Behörden versucht, die 10.000 bis 14.000 Einwohner Ideomenis in Lager zu verbringen, die von der Regierung betrieben werden – einige in früheren Gefängnissen oder psychiatrischen Einrichtungen. Am Tag unseres Besuches brachten Charterbusse einer Firma namens “Crazy Holidays” eine Gruppe Flüchtlinge, die sich freiwillig gemeldet hatten, zu diesen offiziellen Lagern, welche die griechische Armee betreibt und die zum Teil auch sehr mangelhaft sind.
Inzwischen ist die Räumung von Idomeni in vollem Gange. Die Grenze bleibt geschlossen. Wer auch immer den Zaun nach Mazedonien überwindet, wird wieder zurückgedrängt. Zusammenführung und Umsiedelung bleiben ferne Ziele, und die über den Köpfen der Flüchtlinge hängt wie eine dunkle Wolke die Sorge vor Abschiebung.