Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt mein Freund Gonzalo Boye, der als Kooperationsanwalt in Madrid unter anderem unseren Guantanamo-Fall in Spanien vorantreibt und der dafür gesorgt hat, dass dieser Blog auf Spanisch bei Eldiario.es zu lesen ist.
Spanien erlebt zurzeit eine politische, wirtschaftliche und moralische Zäsur. Diese zu begreifen, vor allem sie zu erklären, ist nicht einfach. Auf Bitten meines Freundes und Kollegen Wolfgang Kaleck werde ich es an dieser Stelle dennoch kurz versuchen.
Viele glauben, dass alles Schlechte, das derzeit in Spanien passiert, eine Folge der von Deutschland diktierten Sparpolitik ist. Für mich gibt es eine andere Ursache: Die spanischen Probleme haben ihre Ursache in der Transisción, der Demokratisierung des Landes nach dem Tod des Diktator Franco. Die Demokratisierung scheint mir nicht abgeschlossen.
Trotz der damals bereits existierenden Wirtschaftskrise gewann die Partido Popular (eine durch und durch konservative Partei) 2011 die Parlamentswahl, und das mit einem vorher nie dagewesenen Ergebnis: Sie erhielt die größte Mehrheit seit dem Tod Francos. Darin sah die PP ihre Legitimation, Gesetzesinitiativen zu erlassen, die einem demokratischen Rechtsstaat unwürdig sind. Diese Gesetzesinitiativen bedeuteten einen demokratischen Rückschritt und die Beschneidung von Freiheiten.
Zur gleichen Zeit fing die spanische Bürgerschaft an, sich in verschiedenen Bewegungen zu organisieren. Alle eint dieselbe Wahrnehmung: Die Politiker vertreten uns nicht. Deutlicher kann die Distanz zwischen Regierenden und Regierten nicht sein. Einige dieser Bürger-Bewegungen konzentrieren sich auf wirtschaftliche oder soziale Probleme, wie zum Beispiel die Plattform für die Betroffenen von Hypotheken (PAH). Deren prominenteste Repräsentantin Ada Colau schaffte es, mit ihren Mitstreitern so viele Unterschriften zu sammeln, dass sie ein Volksbegehren für ein humaneres Hypothekengesetz ins Parlament einbringen konnte. Bis dahin hatte der Gesetzgeber das Leid vieler Menschen, die wegen der Wirtschaftskrise ihre Hypotheken nicht mehr zahlen konnten und schließlich zwangsgeräumt wurden, einfach ignoriert.
Die PAH und Ada Colau haben Betroffenen von Zwangsräumungen und Hypothekenlast zudem juristischen Beistand geleistet. Dabei haben sie einige wichtige Erfolge erzielt: Missbräuchliche Klauseln in den Kaufverträgen wurden beanstandet, außerdem konnte die PAH herausarbeiten, dass die spanischen Hypothekengesetze nicht europäischen Normen entsprechen, sondern oft zugunsten der Banken und Sparkassen ausgelegt wurden. Die Organisation hat außerdem vor betroffenen Wohnungen gegen Zwangsräumungen demonstriert und versucht, diese friedlich zu verhindern. All diese Aktionen des passiven Widerstandes für die sozial Schwachen haben Ada Colau ein Prestige und eine unglaubliche Sichtbarkeit gegeben. Und das in einem Land, das sich doch eigentlich für reich hielt.
Andere Bewegungen haben ihr Handeln direkter auf das politische System ausgerichtet. Zu ihnen gehört die Gruppierung Podemos („Wir können es/Wir schaffen es“) unter der Leitung von Pablo Iglesias, die inzwischen eine politische Partei ist. Im Mai nahm sie zum ersten Mal an Wahlen teil und errang gleich fünf Sitze im Europäischen Parlament. Podemos ist eine Gruppierung ohne feste hierarchische Struktur, die aus der Protestbewegung des 15. Mai hervorgegangen ist. Am 15. Mai 2011 protestierten an der Puerta del Sol in Madrid erstmals Tausende gegen die Sparpolitik und den wirtschaftlichen Niedergang des Landes und das politische System im Allgemeinen.
Bei Podemos versammelt sich eine neue Generation von Politikern, aus dem Umfeld der Universitäten und sozialen Bewegungen. Diese Organisation sucht – anders als die etablierten Parteien – den direkten Kontakt zu den Menschen und deren Problemen. Sie hat den politischen Diskurs auf die praktischen Probleme zurückgeführt, die Politik auf eine gewisse Weise entideologisiert, auf einen gemeinsamen Minimalnenner reduziert und so wiederum für ein weites Bürgertum geöffnet: Anstatt die Menschen in Konservative und Linke aufzuteilen, unterscheidet Podemos zwischen denen, die oben, und denen, die unten sind.
In Spaniens verschiedenen Bürgerbewegungen fließen aktuell zwei zentrale Ideen zusammen: Es gibt andere Formen, Politik zu machen und es gibt objektive Möglichkeiten, um einen Wandel zu generieren, der die tatsächliche Demokratisierung des Landes vorantreibt. Eines Landes, das jahrzehntelang verwirrt über seine eigene Identität war.
Die Wirtschaftskrise hat uns außerdem in die Realität zurückgebracht: Weder waren wir in Spanien reich noch wirklich demokratisch organisiert.
Übersetzung aus dem Spanischen: Lisa Caspari
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.