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Toleranz und Vielfalt müssen verteidigt werden

 

Natürlich ist der Habitus von uns Berlinern mitunter unerträglich: Wir schildern den kulturellen Reichtum der Stadt, die Attraktivität für junge Menschen sowie Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt, die tatsächliche und imaginierte Toleranz in höchsten Tönen, auf dass ein bisschen Glanz auch auf uns selbst abfalle.

Natürlich fanden wir es alle toll, als der Bürgermeisterkandidat Klaus Wowereit sich 2001 auf dem SPD-Parteitag mit den Worten vorstellte: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“ und dann dieses Schwulsein, seine Partnerschaft und seine Lebenslust in seiner Amtszeit offen auslebte – auch wenn die sozialen Defizite sozialdemokratischer und linker Politik in der Stadt mit zunehmender Amtsdauer deutlicher wurden.

Und es ist ja auch durchaus etwas dran an der Erzählung von Berlin als Hochburg der Toleranz: Wenn ich von einem jungen mexikanischen Freund höre, der als Schüler aufgrund seines Andersseins und seines Schwulseins in Mexiko an den Rande des Selbstmordes getrieben wurde, dass er hier in Berlin nicht nur eine Zuflucht gefunden hat, sondern sich wohl fühlt und gern hier lebt, dann freue ich mich. Denn vielen geht es wie ihm. Das ist die eine Seite der Medaille.

Die andere Seite der Medaille – ich bleibe in Berlin und gehe nicht in die Provinz – sind Geschichten wie die des 16-jährigen Nasser, einem jungen, schwulen Libanesen, den seine Familie zwangsverheiraten wollte. Als er damit nicht einverstanden war, versuchte die Familie, ihn kurzerhand Richtung Libanon zu verschleppen. Eine „Schwuchtel“ wollte man nicht in der Familie haben. Der Vater soll gar gemeint haben, dass man Leute wie ihm besser ein Messer in den Hals ramme.

Vorsicht mit dem Zeigefinger!

Das Schicksal des jungen Nasser ist kein Einzelfall. Nicht nur junge muslimische Frauen werden zwangsverheiratet, auch immer mehr Fälle von jungen Männern werden bekannt. Auch von homophob motivierten Tötungsverbrechen wird zunehmend berichtet. Viel zu oft werden diese Morde als „Ehrenmorde“ bezeichnet, ein schrecklich euphemistischer und unzutreffender Begriff.

Homosexualität widerspricht dem herrschenden Männlichkeitsideal, wonach Männer stark und dominant zu sein haben. Zudem weichen schwule Partnerschaften von dem tradierten Rollenbild der bürgerlichen Kleinfamilie ab. Eine solche Vorstellung mag derzeit häufig in migrantischen Communities bestehen, doch Vorsicht mit dem Zeigefinger! Es ist schließlich nicht so, als wären derartige Vorstellungen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft längst überholt.

Zum Fall von Nasser passen Berichte von Übergriffen migrantischer Jugendlicher gegen Schwule, gerade auch in jenen Innenstadtbezirken Berlins, in die sich Rassisten und Neonazis selten verirren. Die Zahl homophober Gewalttaten ist beängstigend hoch. Das schwule Anti-Gewaltprojekt Maneo nannte in seinem Jahresbericht für 2013 zuletzt 290 solcher Fälle – und das sind nur die, die bekannt geworden sind.

Wir, die wir in Berlin leben, haben in den vergangenen Jahren trotz aller bestehenden Diskriminierungen eine kulturelle Vielfalt aufgebaut, auf der wir uns aber nicht ausruhen können, sondern die wir verteidigen müssen – gegen die homophoben ebenso wie gegen die rassistischen und antisemitischen Angriffe der jüngsten Zeit.