Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreibt Miriam Saage-Maaß. Sie leitet den Bereich „Wirtschaft und Menschenrechte“ des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und beschäftigt sich unter anderem mit den Menschenrechtsverletzungen in den Produktions- und Lieferketten der globalen Textilindustrie.
Jeder Mensch wächst mit bestimmten Gewissheiten auf. Eine, die ich wohl mit vielen in Deutschland Aufgewachsenen teile, ist diese: Wenn der TÜV etwas geprüft hat, dieser Gegenstand mit deutscher Gründlichkeit untersucht wurde, ist er auch wirklich sicher.
Nun ist es so, dass der TÜV und seine Gesellschaften, wie etwa der TÜV Rheinland, seit Langem nicht mehr nur Autos und Spielplätze in Deutschland prüfen, sondern in sogenannten Sozial-Audits auch die Sozial- und Arbeitsstandards in Fabriken in aller Welt kontrollieren.
Doch wenn der TÜV Textilfabriken in Bangladesch und anderen Ländern Südasiens untersucht, sind diese Prüfungen nicht so umfangreich und stichhaltig, wie wir es von TÜV geprüft-Siegeln gewohnt sind. Das zeigt sich zum Beispiel am Einsturz des Rana-Plaza-Fabrikgebäudes in Bangladesch, bei dem im April 2013 mehr als 1.130 Menschen starben und 2.500 zum Teil schwer verletzt wurden. Dort hatte der TÜV Rheinland erst wenige Monate zuvor die Nähhalle des Herstellers Phantom Apparel Ltd. im Rana-Plaza-Gebäude geprüft.
Ähnlich war es bei der Brandkatastrophe in der Textilfabrik Ali Enterprises in Pakistan. Der Brand im September 2012 kostete 260 Arbeiterinnen und Arbeiter das Leben. Die Fabrik produzierte vorwiegend für den deutschen Textilhändler KiK und hatte wenige Wochen vor dem Brand von der italienischen Firma Rina ein „SA 8000“-Zertifikat erhalten, das der Fabrik unter anderem hohe Feuersicherheitsstandards bescheinigte.
Die instinktive Reaktion der meisten Verbraucher auf solche Vorkommnisse: So etwas muss doch rechtliche Konsequenzen haben – auch für den TÜV und all die anderen Zertifizierungsunternehmen. Hat es aber nicht, so die Realität in Deutschland.
Keine Verantwortung für den Inhalt der Berichte
Deutsche Gerichte tun sich schwer mit der Haftung von Zertifizierungsunternehmen. Keine der geschädigten Frauen, deren TÜV-geprüfte Brust-Implantate ausgelaufen waren, erhält nach dem derzeitigen Stand der deutschen Rechtsprechung einen Schadensersatz vom TÜV. Der TÜV habe nur das Qualitätssicherungssystem des Herstellers überprüfen müssen, nicht jedoch die Beschaffenheit und Qualität der hergestellten Brustimplantate selbst, so die Begründung. Eine Verpflichtung des Zertifizierers, im Interesse der Frauen zu handeln, ergebe sich aus dem Zertifizierungsvertrag nicht. Ähnlich verhält es sich mit den Sozial-Audits in den Textilfabriken Südasiens: Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Rana Plaza haben kaum eine Chance, den TÜV Rheinland für den Bericht in Haftung zu nehmen.
Die Konsequenz dieser Rechtsprechung: Zertifizierungsunternehmen tragen in Deutschland nach derzeitiger Rechtslage für den Inhalt ihrer Berichte keine Verantwortung. Seit fast zehn Jahren belegen empirische Studien verschiedener Universitäten, dass Sozial-Audits und die dazu gehörenden vermeintlichen Verbesserungsprogramme die Arbeitsbedingungen in der globalen Textilindustrie kaum verbessern.
Das heißt: Auch wenn die allermeisten Unternehmen heutzutage ihre Zulieferbetriebe prüfen lassen, hat das wenig Wirkung. Wenn die Prüfberichte zudem noch nicht einmal die Realität der Betriebe zuverlässig widerspiegeln, sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.
System der „organisierten Unverantwortung“
Wie kann es sein, dass Unternehmen, Verbraucher und Politiker dennoch auf die Sozial-Audits setzen? Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung baut darauf, dass Verbraucherinnen und Verbraucher die verschiedenen Siegel und Prüfungsmechanismen kennen und damit sozial verantwortliche Einkaufsentscheidungen treffen können. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen über ihre vermeintliche Marktmacht die Arbeitsbedingungen in Zulieferbetrieben der Firmen verbessern, bei denen sie einkaufen. Dieses Konzept ist schon fraglich genug. Eine Voraussetzung hierfür wäre mindestens, dass die Prüfungsbedingungen und Prüfberichte öffentlich zugänglich sind.
Vor allem müssen die Zertifikate zuverlässig sein und halten, was sie versprechen – und nicht zuletzt einklagbar sein. Solange dies nicht der Fall ist, dienen Sozial-Audits bloß der Beruhigung des Gewissens von Unternehmensmanagerinnen und -managern.
Die heutigen Wertschöpfungsnetzwerke sind so komplex, dass transnationale Unternehmen mit ihren Produktions- und Zulieferfirmen oft nur in einem flüchtigen Liefervertragsverhältnis stehen. Kommt es zur Katastrophe wie in Rana Plaza oder bei Ali Enterprises, können die Unternehmen nicht nur darauf verweisen, dass sie keinen Einfluss auf ihre vielen Zulieferbetriebe haben. Sie können sich auch auf Berichte der Sozial-Audits berufen. Damit machen Sozial-Audits das System der „organisierten Unverantwortung“ in globalen Zulieferstrukturen perfekt: Sie dienen dem White Washing.
Klagen laufen bereits
Über das Für und Wider von Siegeln und Zertifikaten wird hierzulande noch diskutiert. Doch betroffene Arbeiterinnen und Arbeiter verlangen schon jetzt vor deutschen und europäischen Gerichten Gerechtigkeit. Im Fall der abgebrannten Fabrik in Pakistan haben die Überlebenden und Angehörigen beim Landgericht Dortmund KiK auf Schadensersatz verklagt, und auch der italienische Zertifizierer Rina muss sich auf Klagen an seinem Hauptsitz in Genua gefasst machen.
Im Fall Rana Plaza/TÜV Rheinland hat das ECCHR gerade gemeinsam mit Partnerorganisationen eine Beschwerde bei der Unternehmensplattform Business Social Compliance Initiative (BSCI) eingereicht. Denn die BSCI verspricht ein systematisches Überwachungs- und Qualifikationssystem zur Verbesserung der Sicherheits- und Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern, und der TÜV Rheinland ist eines von 19 Zertifizierungsunternehmen, die für BSCI-Mitglieder Fabriken wie Rana Plaza prüfen.
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.