Die Präsidentenwahl in Argentinien – aus welcher der rechtskonservative Kandidat Mauricio Macri als Sieger hervorging – war noch keine 48 Stunden vorbei, da forderte die Tageszeitung La Nación in einem Leitartikel schon „Nicht noch mehr Rache“. Gemeint waren die laufenden juristischen Prozesse wegen Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983. Mehr als 30.000 Menschen wurden damals ermordet, die meisten „verschwanden“ in geheimen Folterlagern, von vielen fehlt bis heute jede Spur.
Doch inzwischen sind für diese Verbrechen mehr als 600 ehemalige Militärs, Polizisten und Zivilisten, darunter Ärzte, Pfarrer und Richter, verurteilt worden – die argentinische Gesellschaft ging zwar einen späten, dafür aber weltweit beispielhaften Weg der Aufarbeitung. Es war die Regierung von Néstor Kirchner, die 2005 die Amnestiegesetze aufhob und damit eine Welle von Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen der Diktaturverbrechen ins Rollen brachte. Doch dieser Erfolg wäre unvorstellbar ohne die jahrzehntelange Arbeit von Überlebenden, Angehörigen und sozialen Bewegungen, die nicht müde werden, Gerechtigkeit für die Opfer der Militärdiktatur einzufordern. Auch deutsche Aktivisten und Rechtsanwälte unterstützen bis heute die argentinische Menschenrechtsbewegung.
Deswegen stellte ich diese Woche in Berlin gemeinsam mit der befreundeten Soziologin Rosario Figari Layús aus Argentinien ihr neues Buch Los juicios por sus protagonistas. Doce historias sobre los juicios por delitos de lesa humanidad en Argentina vor. Das Buch veranschaulicht anhand von Interviews mit den ProtagonistInnen der Verfahren nicht nur deren persönliche Perspektive, sondern auch die Bedeutung der juristischen Aufarbeitung der Staatsverbrechen für die argentinische Gesellschaft.
Die Gespräche in dem Buch zeigen eindrücklich, dass die Bestrafung der Verantwortlichen bei Weitem nicht das Wichtigste ist. Carlos Soldati, dessen Bruder ermordet wurde und der selbst die Folterhaft überlebte, erzählt, wie wichtig es für ihn und seine Familie ist, dass im Gerichtssaal offiziell festgestellt wurde, dass die von der Familie berichtete Geschichte der Ermordung seines Bruders der Wahrheit entspricht.
Denn auch im demokratischen Argentinien wurden die Überlebenden und Opfer der Diktatur stigmatisiert. Delia Barrera, eine andere Überlebende, berichtet, wie die Begegnung mit ihren Peinigern im Gerichtssaal die Rollen umkehrte: Nun war sie die anklagende Zeugin und die Gewalttäter von einst trugen Handschellen. Erst die Prozesse der vergangenen zehn Jahre haben klargestellt, dass die Gewalttaten der Diktatur Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren.
Die Rolle, die staatliche Akteure wie Militärs, Polizisten, Geheimdienstler und Politiker damals spielten, steht außer Frage. Wichtiger Teil der Wahrheit über die Militärdiktatur ist aber auch, dass es eine große Beteiligung von Unternehmen gab: Ziel war die Ausschaltung der organisierten Arbeiterschaft. Die Aufarbeitung der Komplizenschaft von Unternehmen verläuft bisher allerdings schleppend. Nach der Wahl des wirtschaftsnahen Macri zum neuen Präsidenten fürchten nun viele argentinische Menschenrechtsaktivisten, dass diese Verfahren versanden könnten.
Immerhin: Die Reaktion der argentinischen Öffentlichkeit und der Belegschaft La Nación lässt hoffen. Die Mitarbeiter der Zeitung haben sich öffentlich von dem Leitartikel gegen die Diktaturverfahren distanziert. Und der Einsatz von Überlebenden, Angehörigen und Zivilgesellschaft für Wahrheit und Gerechtigkeit wird nicht nachlassen. Diese AkteurInnen brauchen die solidarische Unterstützung der internationalen Zivilgesellschaft, um die Erfolgsgeschichte der Aufarbeitung der Diktatur fortzuschreiben.