Die von den USA und Großbritannien angeführte Invasion des Iraks im Frühjahr 2003 ist ein Verbrechen. In dem seit mehr als dreizehn Jahre dauernden bewaffneten Konflikt starben Hundertausende Menschen. Alle Seiten, also auch die USA und Großbritannien, haben massive Kriegsverbrechen, unter anderem Massaker und Folter, begangen. Von Tony Blair, dem damaligen britischen Premier, ist dahingehend keine Einsicht zu erwarten. Daran wird auch der Bericht der britischen Untersuchungskommission, den der frühere Diplomat Sir John Chilcot heute vorgestellt hat, nichts ändern.
Dabei könnten Chilcots Feststellungen nicht deutlicher sein. Großbritanniens Entscheidung, an der Invasion mitzuwirken, kam zu früh, ohne Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten. Die Regierung Blair traf die Entscheidung außerdem auf Grundlage falscher Tatsachen. Die Geheimdienstinformationen waren nicht nur falsch, zudem bestand keine rechtliche Grundlage für den Kriegseintritt.
Wenn man heute zurückschaut auf die 2003 getroffenen Entscheidungen zum Krieg, sollte man nicht vergessen, dass sowohl Saddam Hussein als auch sein syrischer Nachbar Baschar al-Assad schwerste Menschheitsverbrechen begangen haben. Im Falle Saddams waren es Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der kurdischen und an der schiitischen Bevölkerung seines Landes. Auch das berüchtigte Abu Ghraib-Gefängnis nutzte das Regime des irakischen Diktators bereits Jahrzehnte vor den USA für systematische Folter. Es wäre daher falsch, die Schuld für die Destabilisierung der Region ausschließlich bei den westlichen Militärmächten zu suchen. Dennoch: Der Krieg und auch die Besatzung durch Großbritannien und die USA haben zum partiellen Verschwinden der Staatlichkeit im Irak und zum Entstehen des „Islamischen Staates“ massiv beigetragen.
Es ist wichtig und richtig, dass Großbritannien – und damit unterscheidet es sich wohltuend von vielen anderen Ländern dieser Erde – sich mit den damaligen politischen Fehlern und Rechtsverstößen wie hier gegen die UN-Charta bis heute auseinandersetzt. Die Hunderten von Seiten des Berichts harren insoweit noch einer sorgfältigen Auswertung. Man würde sich allerdings wünschen, dass Rechtsverstöße mit derartig fatalen Folgen auch zu rechtlichen Sanktionen gegen die politischen und militärischen Verantwortlichen führen. Der Chilcot-Bericht selbst gibt keine rechtlich bindende Entscheidung. Dazu bedürfe es – so Chilcot – eines ordentlich konstituierten und international anerkannten Gerichtshofs.
Da könnte man natürlich an den seit 2002 bestehenden Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag denken – immerhin hatte dessen großes Vorbild, das Nürnberger Militärtribunal gegen die Nazi-Haupttäter, den Angriffskrieg der Deutschen als die „Mutter aller Verbrechen“ verurteilt. Doch abgesehen von anderen juristischen Schwierigkeiten sind Ermittlungen und Anklagen wegen dieses Verbrechens in Den Haag derzeit nicht möglich, sondern erst ab 2017 und dann auch nicht rückwirkend und sowieso nur für die Staaten, die das Statut insoweit ergänzen.
In Großbritannien denken Juristen und Politiker bereits darüber nach, auf der Grundlage eines alten Gesetztes ein „Impeachment-Verfahren“ gegen Blair einzuleiten. Doch man muss sagen: Hier fehlt es an klaren strafrechtlichen Vorschriften, um Blair wegen Fehlverhaltens auch tatsächlich anzuklagen.
Die Bemühungen meiner Organisation, des European Centers for Constitutional and Human Rights (ECCHR), beschränken sich auf die nachgewiesenen Fälle von Folter und Misshandlungen an irakischen Kriegsgefangenen durch britische Militärs und Geheimdienstmitarbeiter. Immerhin hat die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag im Frühjahr 2014 dazu Vorermittlungen aufgenommen. Dabei wird Blairs Verteidigungsminister Geoffrey Hoon hoffentlich zu belangen sein. Des notorischen Bellizisten Blairs strafrechtliche Verantwortung für die Folterstraftaten mag sich aus weiteren Ermittlungen ergeben. Mögen daher die Ermittlungen in Den Haag, besser noch: in London, nunmehr mit Nachdruck betrieben werden. Die Straflosigkeit des Angriffskriegs ist ein fürwahr unbefriedigendes Ergebnis. Politische Lehren zur Vermeidung von Kriegen lassen sich jedoch zur Genüge aus dem Chilcot-Bericht ziehen, eine Reform des Strafrechts gehört auf jeden Fall dazu.
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis zu den Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.