Wie schrecklich! Ich genieße die Sünde. Seit Jahren, beinahe täglich und mit großer Leidenschaft – zumindest, wenn es nach Großmufti Scheich Abdulaziz Al al-Sheikh geht. Der höchste Islamgelehrte Saudi-Arabiens hat eine Fatwa gegen das Schach ausgesprochen und empfohlen, die Finger von meinem Lieblingsspiel zu lassen. Das hat er schon im Dezember getan, doch zum Thema wurde es erst jetzt, denn am Freitag begann in Mekka, der heiligen Stadt des Islams, ein Schachturnier.
Was treibt den Mann? Hat ihn seine Enkelin Schäfermatt gesetzt? Oder ist ihm peinlich, dass die zehn besten Schachspieler Saudi-Arabiens im Schnitt fast 100 Elo-Punkte schlechter spielen als die zehn besten Spielerinnen aus dem Iran, dem politischen Rivalen Saudi-Arabiens? Natürlich nicht.
Wie so vielen religiösen und politischen Führern geht es ihm um nichts anderes als das Seelenheil seiner Anhänger. Deshalb warnt er vor dem Schach, es ist in seinen Augen „eine Verschwendung von Zeit und Geld und verursacht Rivalität und Feindschaft. Es macht reiche Leute arm und arme Leute reich“.
Es fällt leicht, sich über solche Verbote lustig zu machen. Schließlich ist es Frauen in Saudi-Arabien auch verboten, Auto zu fahren oder sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, wenn sie nicht voll verschleiert sind. Doch mit seiner Angst vor dem Spiel und seinen Folgen befindet sich Scheich Abdulaziz Al al-Sheikh in guter Gesellschaft christlicher und jüdischer Gelehrter, die das Schach im Laufe seiner Geschichte auch gerne verbieten ließen. Selbst der Buddhismus warnt in einer seiner fünf ethischen Grundregeln davor, den Geist zu berauschen und das Bewusstsein zu trüben. Wer je stundenlang Blitzschach gespielt, ein Analysemarathon oder Zeitnot erlebt hat, der weiß, wovon die Rede ist.
Auch der Gedanke, dass Schach eine große Verschwendung von Zeit und Energie sein könnte, ist nicht neu. Stefan Zweig beschrieb das Spiel in seiner Schachnovelle als „ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz“ und Gustave Flaubert meinte über das Schach lapidar: „Zu ernsthaft für ein Spiel, zu seicht als Wissenschaft“.
Aber was weiß und versteht Scheich Abdulaziz Al al-Sheikh denn eigentlich vom Schach? Hat er eine einzige Partie in seinem Leben gespielt, kennt er überhaupt die Regeln oder auch nur zwei Züge Eröffnungstheorie? Und wieso fühlen sich manche Leute überhaupt stets dazu berufen, anderen zu erklären, wie sie ihr Leben leben sollen, was gut und was schlecht ist, was man tun und was man nicht tun soll?
Schach mag Zeitverschwendung sein, aber es zeigt einem, wie leicht man sich irren kann, wie unzuverlässig das eigene Denken ist und wie schnell Überzeugungen, Züge, die man für gut und richtig hielt, sich bei genauerem Hinschauen und Nachdenken als schlecht herausstellen. Das schult den Geist und führt im besten Fall zu Toleranz und Bescheidenheit. Genau, zu Toleranz und Bescheidenheit.