Vielleicht war es meine (gute) Erziehung, die mir schon früh abgewöhnt hat, mich über „eigenartige“, „andersartige“, „besondere“ Menschen lustig zu machen. Vielleicht hat sich das aber auch im Laufe der Buchrecherchen entwickelt. Im Bereich der Sexualität gibt es einfach zu viele Neigungen, Fetische, Liebhabereien, besondere Vorlieben, als dass man sich über die Menschen, die all dies praktizieren, lustig machen könnte oder sollte. Dann hätte man nämlich nichts anderes mehr zu tun.
Im Gegenteil: Ich bewundere Menschen, die nicht nur für sich herausgefunden haben, dass sie beispielsweise irre darauf abfahren, Windelhosen zu tragen und einen Schnuller im Mund zu haben. Sondern die auch den Mut finden, diese Vorliebe auszuleben. Die gemerkt haben, dass sie von Latex erregt werden, von Seide oder von Plüsch. Männer, die sich einmal pro Woche dem Gespött der Ignoranten, die ihnen auf der Straße begegnen, aussetzen, um ihr Faible für Frauenkleidung in der Öffentlichkeit ausleben zu können. Frauen, die unter dem Rollkragenpulli ein Hundehalsband tragen – als Zeichen für ihren Liebsten.
Die Gedankenwelt des Menschen ist faszinierend, reichhaltig und strotzt nur so vor Fantasie. Kollegen, die einem bei Tag als dröge, einfallslose Buchhalter oder Supermarktarbeiter erscheinen, können bei Nacht in eine andere Persönlichkeit wechseln, die bei vielen von uns die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens sprengen würde.
Das ist wunderbar, vor allem angesichts des Umstandes, dass vermutlich nur ein Bruchteil von uns jemals das Glück hat, diese (eine?) besondere Vorliebe abseits vom Blümchensex kennenzulernen. Manche Fantasien sind schon im Kopf, manche werden aber auch erst durch eine Berührung, einen Partner ausgelöst, der mit einer neuen Welt bekannt macht.
Und das ist nur der erste Schritt. Der zweite ist der schwierigere: dieses Neue auch zulassen zu können. Auf Ponyspiele zu stehen oder sich gern schlagen zu lassen, ist sicher für viele eine Entdeckung, die ganz schnell wieder verdrängt wird.
Je mehr Menschen mit außergewöhnlichen sexuellen Vorlieben ich kennengelernt habe, umso größer wurde meine Neugier, was diese Menschen antreibt, was ihnen den Kick gibt. Was sie geil daran finden, sich in einen Latexsack zu legen, die ganze Luft rauspumpen zu lassen und nur noch durch einen Schlauch atmen zu können. Warum sie zwei Mal pro Woche in einen Swingerclub gehen, um dort erst recht wieder „nur“ mit ihrer eigenen Ehefrau Sex zu haben. Was eine Frau dazu bewegt, sich von 20 Männern mit Freude ins Gesicht spritzen zu lassen – und was ihren Mann, dabei zuzusehen.
Ich habe mir sehr schnell abgewöhnt, etwas als „krank“ oder „pervers“ oder „gestört“ abzuklassifizieren. Sagen Sie mir die abgefahrenste sexuelle Neigung, von der Sie jemals gehört haben, und meine erste Reaktion wird sein: „Interessant. Warum macht er das? Was findet sie toll daran?“
Nicht immer klappt das. Es gibt Dinge, die ich nie verstehen werde, weil ich sie nicht verstehen will. Vielleicht auch, weil ich Angst davor habe, sie zu verstehen und damit dem Mann, der kleine Kinder missbraucht, eine menschliche Seite zuzugestehen.
Kein anderer Bereich unseres Lebens macht uns so verletzlich und so gefährdet für Spott wie unsere Sexualität. Ich könnte öffentlich sagen, Dieter Bohlens Musik zu mögen oder FDP zu wählen – alles peinlich, aber kein Problem. Aber auch nur irgendeine Fantasie zuzugeben, würde gleich ganze Bilderbatterien in den Köpfen meiner Umgebung abfeuern.
Zugegeben, nicht immer klappt das mit dem Verstehen auf Anhieb. Aber das wird schon.
In diesem Sinne: Darf ich Ihnen String-Emil (NSFW!) vorstellen?