Auf Basis seine Zivilgesellschaftstheorie und vor dem historischen Hintergrund des italienischen Faschismus hat es der Kommunist Antonio Gramsci (1891-1937) als einer der ersten Intellektuellen zu einer eigenen Theorie des Totalitarismus gebracht. Zum Verständnis dieses theoretischen Ansatzes sind vor allem zwei Begriffe von Bedeutung – eben der Begriff der „Zivilgesellschaft“ sowie der der „passiven Revolution”.
Gramsci wurde im Jahr 1926 unter der faschistischen Herrschaft Mussolinis verhaftet und verfasste im Kerker seine berühmten „Gefängnishefte“ (1929ff). In diesen stellte er sich u.a. die Frage, warum ausgerechnet im rückständigen Russland im Jahr 1917 mit der „Oktoberrevolution“ eine proletarische Revolution siegreich sein konnte, während diese im entwickelten Westen auf sich warten ließ. Als Antwort auf diese Frage verweist Gramsci auf die Zivilgesellschaft (società civile). In den entwickelten Ländern habe sich oberhalb der ökonomischen Struktur und unterhalb des Staates ein Bereich freiwilliger politischer Initiative entwickelt, eben die Zivilgesellschaft. Diese besteht aus zahlreichen Vereinigungen aus den Bereichen Kultur und Sport, aber auch aus den Gewerkschaften und der Presse, soweit diese meinungsbildende Effekte hervorruft. Gramsci versteht unter „Zivilgesellschaft“ letztlich all jene freiwilligen Betätigungen und Vereinigungen, die auf meinungsbildende und herrschaftssichernde Prozesse Einfluss nehmen. Diese fungierten, so Gramsci in den „Gefängnisheften, als „Schützengraben“ der westlichen Demokratien.
Eine Möglichkeit, in diesem „Schützengraben“ feindliche Krieger auszuschalten und das kapitalistische System zu erhalten, ist nach Gramsci dabei die „passive Revolution“. Hierunter versteht er eine politische Strategie, mit deren Hilfe die hegemoniale Position der führenden Gruppe trotz massiver Präsenz oppositioneller Kräfte aufrechterhalten wird. Hierzu eignet sich die führende Gruppe Momente des politischen Programms der oppositionellen an und versucht außerdem, deren Intellektuelle abzuwerben: „In diesem Sinne ist die politische Führung zu einem Aspekt der Herrschaftsfunktion geworden, insofern die Absorption der Eliten der feindlichen Gruppen zu deren Enthauptung and Vernichtung für einen oftmals sehr langen Zeitraum führt.” So kommt es laut Gramsci zu einer ,,Revolution ohne Revolution”, ,,ohne Terreur”, zu einer ,,passiven Revolution” (Heft 19, § 24) – also letztlich einer Systemstabilisierung.
Auf dieser Grundlage charakterisiert er den italienischen Faschismus als erste totalitäre politische Bewegung, die eine passive Revolution zu etablieren versucht. Unter ,,totalitär” (totalitaria) versteht Gramsci dabei eine politische Bewegung, deren Ziel die Abschaffung der Zivilgesellschaft, also des Raums des politischen Handelns jenseits des Staates ist: ,,Der moderne Staat ersetzt den mechanischen Block der gesellschaftlichen Gruppen durch ihre Unterordnung unter die aktive Hegemonie der führenden and herrschenden Gruppe, beseitigt folglich einige Selbständigkeiten, die jedoch in anderen Formen, als Parteien, Gewerkschaften, Bildungsvereine wiedererstehen. Die zeitgenössischen Diktaturen beseitigen auf legale Weise auch diese neuen Formen von Selbständigkeit und bemühen sich, sie der staatlichen Aktivität einzuverleiben: die legale Zentralisierung des gesamten nationalen Lebens in den Händen der herrschenden Gruppe wird ,totalitär’.” (Heft 25, § 4).
Diese Absorption der Zivilgesellschaft in den Staat führt zum Niedergang des parlamentarischen Systems, das von Gramsci als Zugeständnis des Staates an die Zivilgesellschaft interpretiert wird (Heft 15, § 47). Mit der Wandlung zum totalitären Regime wandelt sich außerdem die Funktion des „modernen Fürsten” Partei. Sie wird vom Subjekt der politischen Aktion hauptsächlich in das Objekt staatlicher Initiative verwandelt: ,,M. [Mussolini, M.B.] bedient sich des Staates, um die Partei zu beherrschen, und der Partei nur teilweise und in schwierigen Augenblicken, um den Staat zu beherrschen.” (Heft 2, § 75) Mit dem Verschwinden anderer legaler Parteien und damit der Zivilgesellschaft als Ort politischen Handelns verliert auch die führende totalitäre Partei ihren politischen Charakter im eigentlichen Sinne: Ihre Funktionen sind ,,nunmehr technische der Propaganda, der Polizei, des moralischen and kulturellen Einflusses.[…] Die politischen Fragen kleiden sich in kulturelle Formen und werden als solche unlösbar.” (Heft 17, § 37)
Als ,,passive Revolution” des 20. Jahrhunderts bezeichnet Gramsci den italienischen Faschismus deshalb, weil er die Forderungen nach einer programmatisch-regulierten Ökonomie von der sozialistischen Bewegung übernimmt und sie auf seine Weise in den Staat transferiert. Er nimmt der sozialistischen Bewegung so ihre programmatische Durchschlagskraft und enthauptet sie intellektuell, um die bürgerliche Ordnung, so Gramscis Auffassung, dem Grundsatz nach aufrecht zu erhalten. Die individualistische Ordnung wird in einer „plangemäße Ökonomie (gelenkte Wirtschaft) transformiert“ (Heft 8, § 23)
Geradezu verblüffend sind dabei die Parallelen, die sich hinsichtlich des Begriffs des Totalitären zwischen Antonio Gramsci und Hannah Arendt ergeben. Ebenso wie Gramsci sieht es Arendt als das Kernmerkmal totalitärer Gesellschaften an, dass sie den öffentlich-politischen Raum zwischen den Menschen, der ihnen das Zusammenhandeln erst ermöglichen könnte, zerstören. Für diesen Zwischenraum, den Gramsci ,,Zivilgesellschaft” nennt, hat Arendt keinen speziellen Begriff und dennoch sind beide Konzepte auf dieser Allgemeinheitsebene sachlich identisch: ,,Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also […] darin, […] daß der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.” („Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, 1955) Das für den Menschen eigentümliche Vermögen, gemeinsam mit anderen Menschen zu handeln, kann sich in der totalitären Gesellschaft folglich nicht mehr entfalten; es kommt damit zu einer Dehumanisierung.
Allerdings besteht auch ein spezifischer Unterschied zur Theorie Gramscis. Dieser stirbt bekanntermaßen zu früh, um die negativen Höhenpunkte totalitärer Herrschaft noch zu erleben. So kann er nicht mehr reflektieren, welche Rolle der Terror in den totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts spielt. ,,Totalitäre Herrschaft wird wahrhaft total in dem Augenblick – und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend zu rühmen – wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt.”, so Arendt. Nachdem also die Zivilgesellschaft als Ort der Politik vom Staat absorbiert ist, geht das totalitäre Regime in einer zweiten Etappe mit Hilfe des Terrors dazu über, auch noch jedwede private Beziehung zwischen den Menschen aufzuheben. Damit werden selbst die Bedingungen zur möglichen Rekonstruktion der Zivilgesellschaft destruiert.
Zu Recht hat allerdings Alex Demirovic darauf hingewiesen, dass totalitäre Gesellschaften auch als „völlig überpolitisierte Gesellschaften” („Demokratie und Herrschaft“, 1997) interpretiert werden können. Gerade ein totalitäres System führt dazu, dass die Menschen permanent mit Fragen der Öffentlichkeit und insofern auch mit Politik konfrontiert sind, wenngleich sowohl Arendt als auch Gramsci der Auffassung gewesen sein dürften, dass der Gegenstand totalitärer Propaganda und ,,Politik” gerade nicht genuin politisch ist. Totalitäre Gesellschaften könnten folglich auch umgekehrt als Systeme interpretiert werden, in denen nicht die Politik, sondern das Recht, sich der Politik zu enthalten, abgeschafft ist. Wenn also Gramscis and Arendts Totalitarismustheorien dennoch berechtigt sein sollen, muss ein weiterer Begriff hervorgehoben werden, nämlich der der Freiheit: Politik erschöpft sich dann ganz im Geiste Arendts nicht in der Beschreibung dessen, was im öffentlichen Raum verhandelt wird, sondern erhielte eine normative Konnotation, deren Grundlage im Begriff der Freiheit zu finden ist. Was nicht unter den Bedingungen von Freiheit and Freiwilligkeit geschieht, könnte demnach nicht politisch genannt werden; und in diesem Sinne wäre es völlig angemessen davon zu sprechen, dass totalitäre Gesellschaften solche sind, in denen die Zivilgesellschaft als Raum der öffentlichen Freiheit zerstört ist.
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