Oder: von der Schwierigkeit, sich das Unvorstellbare vorzustellen.
Die deutschen NS-Verbrechen sind einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Weder davor, noch danach wurden so viele Menschen systematisch ermordet. Die Morde wurden nahezu perfekt geplant und durchgeführt.
Weil wir Erben dieser Geschichte sind – als Menschen und insbesondere als Deutsche – ist es unsere Pflicht, an diese Verbrechen zu erinnern und auch so dafür zu sorgen, dass sie sich niemals wiederholen werden.
Das Problem besteht allerdings darin, dass sich das Grauen, das die Opfer ertragen mussten, nicht nachvollziehen lässt.
So kann man beispielsweise das Leben und Sterben in einem Konzentrationslager nicht nachspielen. In den letzten Jahrzehnten konnten zumindest die überlebenden Zeitzeugen von dem, was ihnen in der NS-Zeit angetan wurde, erzählen. Man konnte ihnen Fragen stellen, mit ihnen diskutieren. Wer ein solches Gespräch erlebt hat, die oder den hat es tief beeindruckt.
Nun aber, fast 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, sterben nach und nach die letzten Zeitzeugen. Von den Orten und Gegenständen der Verbrechen – Häftlings-Baracken etwa, oder Stacheldrahtzäune – sind nicht mehr viele erhalten. Wir sind mehr denn je darauf angewiesen, das Grauen der NS-Zeit in Bildern sichtbar zu machen. Die Erinnerung löst sich also mehr und mehr von den konkreten Menschen und Dingen, die wir befragen können. Sie verlagert sich ins Abstrakte: Ankerpunkte, an denen sich unsere Gedanken und unsere Gespräche über den Nationalsozialismus fest machen.
Ein Denkmal ist solch eine Abstraktion; ein Bild, das im Nachhinein geschaffen wurde. Genauso ein Roman: „Die Bertinis“ von Ralph Giordano etwa, in dem eine erfundene Geschichte erzählt wird, die aber immer wieder Anknüpfungspunkte hat zu dem, was der Autor selbst erlebte. Gerade die Form der romanhaften Erzählung macht es erst möglich, sich in die Personen hineinzuversetzen und sich deren Leiden zumindest anzunähern. Auch in der Gedenkstätte Neuengamme musste man auf Bilder zurückgreifen: an Stelle der Häftlings-Baracken (die es dort nicht mehr gibt) wurden auf deren Grundrissen Gesteins-Brocken in Draht-Körben geschüttet. Dabei wird klar: diese „Gabionen“ sind nicht die Gebäude selbst, sie sollen aber einen Eindruck davon vermitteln, welches Ausmaß das Lager hatte. Die Schwierigkeit besteht nun genau darin, ob dieser Eindruck bei den Betrachter_innen ankommt. Hätte man die Baracken nachgebaut, wäre das eine Irreführung der Besucher_innen gewesen – schließlich gehört der Verlust der ursprünglichen Baracken ja auch zur Geschichte des Konzentrationslagers.
Ein weiterer Versuch, die Erinnerung in Bildern zu fassen – zumal für Jugendliche – ist ein Comic. Das jedenfalls hat vor kurzem das Anne Frank Haus zusammen mit dem Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam getan. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Die Suche“. Es handelt von einer Großmutter, die nun, Jahrzehnte später, zwei befreundeten Jungen ihre Geschichte erzählt: als deutsche Jüdin und selbst noch ein Kind flieht sie 1938 mit ihren Eltern in die Niederlande. Als die deutsche Wehrmacht das Land 1940 besetzt, muss sie wieder die nationalsozialistische Verfolgung erleben. Zwar kann sie sich verstecken, doch ihre Eltern und Bekannten werden ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort ermordet.
Der Comic handelt also auf drei Ebenen: zunächst geht es um die Erzählung über den Holocaust in der heutigen Zeit, nämlich der Großmutter an ihren jüdischen Enkel und dessen nichtjüdischen Freund. Dabei ist auch die Reaktion des nichtjüdischen Jungen bedeutend, der sowohl die Empörung über die Verbrechen, als auch die eigene Scham zeigt.
Auf der zweiten Ebene wird die Geschichte der Menschen während der NS-Zeit erzählt – von den Ermordeten, den überlebenden Opfern, den Täter_innen, den Zuschauern, den Mitläufer_innen, den Hilfsbereiten.
Schließlich wird auch die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust geschildert. Im Comic werden an vielen Stellen Hintergründe erläutert, ohne aber den Erzählstrang zu stören.
Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hat in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur am 15.4.08 erklärt, dass er den Comic „Die Suche“ nicht empfehlen könne. Gerade das Jugendgemäße daran – unter anderem die ansprechenden Zeichnungen – würden die Grauen des Holocaust eher überdecken. Außerdem fand er, dass die Sprache sehr anspruchsvoll sei und daher insbesondere für Hauptschüler_innen wenig geeignet. Allerdings betonte er, dass die Beschäftigung mit diesem Comic einen Einstieg in das Thema bieten könne, auf den aber weitere Formen, z.B. der Besuch einer Gedenkstätte, folgen müssten.
Nun habe auch ich den Comic gelesen und kann Brumlik insofern Recht geben, als dass die – auch gestalterische – Nähe von „Die Suche“ zu ähnlichen Heften wie z.B. „Tim und Struppi“ dazu führt, dass man beim Lesen das sanfte Kribbeln des Abenteuers spürt. Aber was dann passiert, widerspricht Brumliks Einwand: das Abenteuer endet nämlich nicht im happy end, sondern in der Katastrophe, im Erschrecken. Wie im Abenteuer-Comic identifiziere ich mich mit der Heldin und ihren Freunden, und ich muss dabei zusehen, wie sie in die Gaskammer geschickt werden, zu Tode geschunden oder erschlagen werden, zusammen brechen, verhungern. Gerade die schön gezeichneten Bilder ziehen einen näher an die Personen und deren Geschichte.
Ob mit dem Comic, mit einem Mahnmal oder mit Steinkörben – es bleibt der Versuch, das Unbegreifbare ein bisschen begreifbar zu machen. Je nach Betrachter_in ist man von dem einen oder von dem anderen Bild mehr angesprochen. Mich jedenfalls hat der Comic „Die Suche“ sehr berührt, mehr, als ich es zum Beispiel nach einer Guido-Knopp-Doku im Fernsehen war.
——————
Eric Heuvel, Ruud van der Rol, Lies Schippers: Die Suche. Anne Frank Stichting, Amsterdam 2007. Deutsche Übersetzung und Druck gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bezug u.a. über www.annefrank.org