1942 wurde das Wiesbadener Ehepaar Jakob und Thekla Hess von den Nationalsozialisten nach Lublin deportiert und wenig später in Majdanek und Sobibor ermordet. An diese Verbrechen erinnern am damaligen Wohnort des Ehepaares im Wiesbadener Vorort Erbenheim zwei so genannte „Stolpersteine“. Auch in der Ringstraße und in der Wandersmannstraße erinnern Gedenksteine des Künstlers Günter Demnig im Ortskern an deportierte und ermordete jüdische Bewohner des Stadtteils. Ausgerechnet am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus, traten etwa 150 Neonazis dieses Gedenken mit Füßen: ein Affront mit dem Segen der Stadt, denn das Ordnungsamt hatte den „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) die Route für ihren Aufmarsch angeboten und genehmigt.
Für die Arbeitsgruppe „Stolpersteine“ im „Aktiven Museum Spiegelgasse“ ist der Vorgang ein „fatales Zeichen“: wie solle man Zeitzeugen und Nachkommen der Opfer erklären, dass Neonazis der Ortskern überlassen werde, während Nazigegner am Ortsrand bleiben müssten, fragt die Arbeitsgruppe in einem offenen Brief. Dem „Rhein-Main Bündnis gegen den Naziaufmarsch am 8. Mai in Wiesbaden“ waren tags zuvor Mahnwachen an den Stoplersteinen gerichtlich untersagt worden. Der Grund: es könne dort zu einer „gewalttätigen Eskalation“ kommen. Für den Rechtsanwalt Gerhard Strauch ist der Marsch an den den Gedenksteinen vorbei ein Verstoß „gegen die öffentliche Ordnung“, der zu einem Verbot der Demonstration hätte führen können. Der Wiesbadener Anwalt vertritt das Rhein-Main Bündnis und beantragte nun die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Mitarbeiter des Ordnungsamtes. Das Amt habe der Öffentlichkeit im Vorfeld falsche Informationen über den von den JN initiierten Neonaziaufmarsch geliefert.
Ein Blick in Gesprächsprotokolle zeigt: nach dem Verbot der Demonstration in der Innenstadt Ende März hatte ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes zwei Wochen später erklärt „Ein komplettes Verbot der JN Veranstaltung habe keine Aussicht auf Erfolg. Man versuche, die JN in Richtung Airfield Erbenheim zu bekommen“. Tatsächlich aber stand eine detaillierte Route durch den etwa sechs Kilometer entfernten Vorort bereits fest, als die Verbotsfügung für die Innenstadt erlassen worden war. Nach einem Kooperationsgespräch mit Vertretern der JN hatte die Behörde offenbar die detailliert ausgearbeitete Route festgelegt, die auch an den Stoplersteinen vorbei führte – der genaue Streckenverlauf wurde erst im Rahmen des Gerichtsverfahrens um die geplanten Mahnwachen öffentlich. Wäre die genehmigte Route der JN bereits früher bekannt gegeben worden, so Strauch, wäre es möglich gewesen, noch Rechtsmittel einzulegen. Der Anwalt will nun prüfen lassen, ob die Beamten des Ordnungsamtes bei dem Vorgehen eigenmächtig gehandelt haben oder in Absprache mit der Ordnungsdezernentin Birgit Zeimetz und dem Oberbürgermeister Helmut Müller. Denn die Landeshauptstadt mache sich damit erpressbar, schreibt Strauch in seinem Antrag: sollten Neonazis künftig des öfteren in Wiesbaden aufmarschieren wollen, könnten sie sich dabei auf die Verwaltungspraxis im Rahmen der JN-Demonstration stützen.