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Kreuzberg: Polizei übt Selbstkritik nach Nazi-Angriffen

 

Freie Bahn für Neonazis mitten in Kreuzberg - Sekunden später kam es zu den brutalen Übergriffen

Nach dem Neonazi-Krawall in Berlin-Kreuzberg sind in Polizeikreisen selbstkritische Stimmen zu hören. Vor dem Aufmarsch vom Sonnabend sei offenbar die Gewaltbereitschaft der Rechtsextremisten unterschätzt worden, hieß es am Montag. Der „Kräfteansatz“ der Polizei sei vor allem im U-Bahnhof Mehringdamm zu gering gewesen, „und dann wurden die Beamten von den Neonazis überrannt“. Die enorme Gewaltbereitschaft in Teilen der Szene „muss zu neuem Nachdenken führen“. Die Zeiten, „in denen die Polizei Rechtsextremisten als eklig, aber friedlich ansieht, sind vorbei“. Der Staat könne sich keinen Autoritätsverlust leisten. Allerdings wollte sich kein Experte namentlich nennen lassen.

Von Tagesspiegel-Autor Frank Jansen

Etwa 110 Neonazis hatten, wie berichtet, am Mehringdamm Linke, Migranten und Polizisten attackiert. Die Rechtsextremisten wollten in Richtung Tempelhof marschieren, doch 500 Gegendemonstranten blockierten die Route. Es flogen Tomaten, zumindest die Neonazis warfen auch Böller. Die Polizei wollte die Rechtsextremisten durch den U-Bahnhof Mehringdamm aus dem blockierten Areal herausführen. Doch die Neonazis rannten aus dem U-Bahnhof und schlugen auf der Straße um sich. Linke wurden verletzt. Die Polizei bekam die Lage erst nach einigen Minuten in den Griff. Bei dem Einsatz erlitten 36 Beamte Verletzungen, einer liegt noch mit einem Knalltrauma im Krankenhaus. Die Polizei nahm 40 Neonazis und acht Gegendemonstranten vorläufig fest, insgesamt 29 Verfahren wurden eingeleitet.

Nicht nur wegen der Randale steht die Polizei in der Kritik. Auch die Geheimhaltung der geplanten Route der braunen Demonstration ist umstritten. Polizeikreise betonten jedoch, schon bei früheren Aufmärschen sei die Strecke nicht öffentlich mitgeteilt worden, um die Gefahr von Zusammenstößen mit Nazigegnern gering zu halten. Experten nannten den 1. Mai 2010, als sich die Polizei nicht zur Route der Rechtsextremisten äußerte.

Der Krawall vom Sonnabend ist ein weiterer Beleg für das hohe Aggressionspotenzial der „Autonomen Nationalisten“ (AN), vor dem Verfassungsschützer bundesweit schon mehrfach gewarnt haben. Die AN kopieren den Habitus der linken Autonomen und gelten auch als treibende Kraft in der „Ausländer-raus-Kampagne“, die Berliner Neonazis seit Dezember betreiben. Der Auftritt in Kreuzberg sollte nun einer der Höhepunkte sein. Es sei zu erwarten, dass die Kampagne weitergeführt wird, sagte am Montag Verfassungsschutzchefin Claudia Schmid. Außerdem zeigten die oft kleinen und kurzen Aktionen, dass sich die AN „professionalisieren“. Laut Schmid haben die Autonomen Nationalisten mit der rassistischen Propaganda ihr Themenspektrum erweitert, das früher auf den Kampf gegen Linke fixiert war.

In der Kampagne ist auch vom angeblichen „Volkstod“ die Rede. Die düstere Vokabel strapazieren ebenso Neonazis im Süden Brandenburgs, die bizarre Aktionsformen präsentieren. Am 1. Mai marschierten ohne Anmeldung 150 Rechtsextremisten, darunter Berliner, mit weißen Totenmasken in Bautzen (Sachsen) auf. Die überraschte Polizei konnte nur von 30 Neonazis die Personalien feststellen. Den Mummenschanz forciert vor allem die Gruppierung „Spreelichter“, deren Mitglieder als Sensenmänner verkleidet bei einem Karnevalsumzug, vor Spreewald-Touristen und auf einer Autobahnbrücke posiert haben. Verfassungsschutzkreise warnen, die etwa 150 Spreelichter „driften ab in sektenhaften Wahn“.