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Faschismus und Radikalfaschismus I – Ein Streitgespräch über Ernst Nolte

 

Vor 25 Jahren tobte in Deutschland der so genannte „Historikerstreit“ zwischen dem Historiker Ernst Nolte und dem Philosophen Jürgen Habermas über die Singularität von Auschwitz. Der Historiker Frank Sobich und Mathias Brodkorb führten unlängst ein Streitgespräch über zentrale Thesen Noltes, das aus diesem aktuellen Anlass in mehreren Teilen veröffentlicht wird.
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Mathias Brodkorb: Herr Sobich, Sie haben vor geraumer Zeit beim „Netz gegen Nazis“ den „Faschismus“ als wissenschaftliche Analysekategorie verteidigt. Wörtlich sagten Sie zum Beispiel, dass es gut begründbar sei, „den Nationalsozialismus als faschistisches Regime zu bezeichnen, z. B als ‚Radikalfaschismus‘.“ Ich behauptete daraufhin, dass Sie sich hiermit an die Thesen des umstrittenen Historikers Ernst Nolte anlehnten. Das wiederum fand Ihren Widerspruch. Warum?

Dr. Frank Sobich: Zunächst und ganz billig: Der Begriff Radikalfaschismus wird von vielen benutzt; ich z. B. habe ihn aus einem lesenswerten Aufsatz von Hans-Ulrich Wehler übernommen. Und auch das bedeutet nicht, dass ich mich an Hr. Wehler anlehne, sondern nur, dass ich sagen würde, dass das ein tauglicher Begriff ist. Dass der Nationalsozialismus ein spezifisch deutsches Phänomen ist, aber Teil einer europaweiten, ja sogar weltweiten rechtsradikalen Bewegung war, ist meines Erachtens ebenso unbestreitbar, wie dass der Nationalsozialismus in vielfacher Hinsicht konservative, rechtsautoritäre und faschistische Vorstellungen und Konzepte radikalisiert hat. Nolte nutzt solche Überlegungen, um den nationalsozialistischen Antisemitismus kleinzureden und ihn als projektiv-antikommunistische Antwort auf den Stalinismus eigentlich zu entschuldigen. Das finde ich politisch gefährlich, inhaltlich falsch und wissenschaftlich unhaltbar. Aber dieser Geschichtsrevisionismus ergibt sich nicht aus den Begrifflichkeiten Faschismus und Radikalfaschismus.

Brodkorb: Ich hielt es bisher – offenbar fälschlicherweise – für eine Selbstverständlichkeit, dass mit dem Begriff des Radikalfaschismus in der Geschichtswissenschaft Nolte verbunden wird. Er führte diesen Terminus m. W. mit „Der Faschismus in seiner Epoche“ (1963) in die Debatte ein. Der Historiker und Faschismus-Experte Wolfgang Wippermann bestätigt dies in seinen Studien immer wieder und auch Axel Schildt schreibt das Konzept in seinem Lexikon „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert“ keinem anderen als Nolte zu. Auch Hans-Ulrich Wehler hat Noltes Studie nicht nur zum „bedeutendsten Werk, das der deutschen Geschichtsschreibung seit mehr als zwei Jahrzehnten zugewachsen ist“, erklärt, sondern in seinem voluminösen Text „Deutsche Geschichte“ den Begriff Radikalfaschismus ebenfalls auf Nolte zurückgeführt. Aber das tut ja nichts zur Sache, wenn Sie sagen, dass Sie sich gar nicht auf Nolte stützen. Wenn Begriffe dazu dienen sollen, substanziell Verschiedenes begründet voneinander zu unterscheiden, müssen sie letztlich auf den spezifischen Kern der Erkenntnisgegenstände Bezug nehmen. Da jeder „Radikalfaschismus“ eine Zuspitzung des gewöhnlichen „Faschismus“ wäre, schließt sich nun die Frage an: Was war und ist aus Ihrer Sicht der substanzielle Kern des Faschismus, der in Italien in „gewöhnlicher“ Ausprägung zutage trat, aber eben das System dennoch in seiner Spezifität konstituiert hat, und sich in Deutschland zum „Radikalfaschismus“ zugespitzt, also radikalisiert hat?

Sobich: Was allen Faschismen gemein ist, ist, dass sie antidemokratisch, antiliberal und antikommunistisch sind, dass sie die bürgerlichen und adeligen Eliten entmachten, aber nicht enteignen oder zerstören wollen, dass sie eine verbindliche, korporative Ideologie durchsetzen und innere Konflikte unterbinden wollen, und dass sie zumeist entweder koloniale Besitzstandswahrung oder imperialistische Expansion als nationale Notwendigkeit sehen. Dass das faschistische Italien in vielerlei Hinsicht Modellcharakter für die meisten rechts-autoritären Bewegungen und Regimes hatte, heißt nicht, dass es sich hier um die idealtypische Verwirklichung des „gewöhnlichen“ Faschismus handelt, von dem aus nun die Gemeinsamkeiten und Abweichungen bestimmt werden. Jeder Faschismus, egal ob in Italien, in Spanien, in Portugal oder in Österreich oderoderoder, hat seine nationalen Besonderheiten aufzuweisen. Auch faschistische Konzepte in Deutschland, die sich als Alternative zum Nationalsozialismus sahen, wiesen so etwas auf. Der Nationalsozialismus ist aber mehr als eine beliebige nationale Variante, sondern wirklich eine qualitative Radikalisierung in Ideologie und Praxis. Alle faschistischen Bewegungen wollen eine starke Nation, ohne innere Konflikte und Kämpfe – aber der Nationalsozialismus sah in einem harmonischen Zusammenwirken aller Mitglieder der Gesellschaft die natürliche Ordnung und jede Störung als Ausdruck von Krankheit und Zersetzung. Und nur der Nationalsozialismus ist auf die Idee gekommen, hinter der angeblichen inneren Zerrissenheit einen teuflischen Plan einer weltumspannenden Macht zu imaginieren, die als Ziel die Vernichtung des deutschen Volkes habe. Viele faschistische Bewegungen haben die Welt als einen Kampfplatz von Völkern um „Lebensraum“ und natürliche Reichtümer gesehen – aber nur der Nationalsozialismus sah das eigene Volk von der biologischen Vernichtung bedroht und sich damit zu jeder Gewalttätigkeit legitimiert. Der Antisemitismus ist nicht eine einfache Zutat zum „normalen“ Faschismus, sondern prägt den Nationalsozialismus in allen Facetten und Bereichen und führt zur Radikalisierung.

Brodkorb: Ich muss gestehen: Ich finde es völlig naheliegend, unter einem „Radikalfaschismus“ eben die radikale Zuspitzung eines ursprünglichen Faschismus zu verstehen. Was soll sonst diese Wortkonstruktion? Auch ein Rechtsradikaler ist ja ein Rechter, der auf besondere Weise rechts, eben auf radikale Weise rechts ist. Wenn Sie also davon ausgehen, dass der Faschismus zwar „Modellcharakter“ hatte, dies aber dennoch nicht bedeutet, dass der „Radikalfaschismus“ eine „idealtypische Verwirklichung“ dieses Faschismus darstellt – die gibt es ja sowieso nie –, dann scheint mir das begrifflich alles ziemlich verwirrend und unglücklich. Ich würde eher so argumentieren: Im Zentrum des Faschismus steht eine schon fast ins Ästhetische ausgreifende Anbetung des totalen Staates. Es geht darum, aus einer Ansammlung von Individuen einen Gesamtkörper, einen neuen „Organismus“ zu formen und hierzu muss jegliches Private ins Öffentliche verwandelt werden. Der Faschismus kommt dabei im Grunde ohne jede Form von Rassismus aus (und Ähnliches gilt, scheint mir, auch für den Imperialismus), ist aber zugleich bei Bedarf damit kompatibel. Führen Sie sich einfach die Schriften Benito Mussolinis oder Giovanni Gentiles vor Augen: Diese Ideologie verliert nichts an radikaler Potenz, wenn Sie z. B. rassistische Elemente streichen – und diese spielten ja auch erst später, mit Beginn des Bündnisses mit dem Dritten Reich, eine größere Rolle. Ganz anders der Nationalsozialismus: In seinem Zentrum steht nichts anderes als eine biologisch-rassistische Welterlösung, der Kampf gegen eine angeblich an eine biologische Substanz gebundene Form des irdischen Teufels. Der totale Staat ist in diesem Weltbild nur Mittel zur biologischen „Reinigung“ der Welt, niemals Selbstzweck, und der Imperialismus letztlich unvermeidlich: Denn der Teufel muss eben überall bekämpft werden. Im Faschismus ist der „neue Mensch“ somit etwas Seelisches und durchaus Begrenztes, im Nationalsozialismus etwas Materiell-Biologisches und Unersättliches. Diese Unterschiede erscheinen mir als so gravierend, dass – Sie ahnen es – mir die Bezeichnung „Radikalfaschismus“ unglücklich erscheint, auch wenn wir in der Bestimmung der Spezifität des Nationalsozialismus ganz dicht beieinander zu liegen scheinen. Wie stehen Sie zu der – natürlich wenig originellen – These, dass der Nationalsozialismus eben aufgrund seiner herausgehobenen Spezifität vom Typus des „originären“ Faschismus auch begrifflich stärker unterschieden werden sollte?

Sobich: Ich will zunächst etwas über den politischen Pfeffer, der in unserer Debatte steckt, sagen, bevor ich Ihre Frage beantworte. Häufig wird der Faschismus-Begriff benutzt, von Nolte, aber auch von leninistisch inspirierten Autoren, um nicht über die Besonderheit des Nationalsozialismus zu reden, die Shoa wird so zur Randnotiz. Darum stellen sich vielen die Nackenhaare hoch, wenn umstandslos von Faschismus gesprochen wird, wo der Nationalsozialismus gemeint ist.
Es gibt das aber auch andersherum: Indem der NS als etwas ganz Besonderes herausgestellt wird, werden die Verbindungslinien zu konservativer und generell rechts-autoritärer Politik verdunkelt, und dies durchaus mit dem Ziel, aktuelle rechts-autoritäre Politik vom Geruch des Nationalsozialismus zu befreien und wieder hoffähig zu machen. Das ist nicht nur historisch nicht korrekt, sondern auch politisch gefährlich.

Deswegen ist die Debatte häufig so erregt, und alle, die sich äußern, sind immer in der Gefahr, Lob von der falschen Seite und falsche Kritik von der „richtigen“ Seite zu kriegen.

Woran wir hier herumlaborieren, ist die Frage, wie es begrifflich zu fassen ist, dass die Shoa singulär ist und nicht ein „Genozid“ unter vielen, dass sie die folgerichtige Konsequenz aus der nationalsozialistischen Ideologie war und kein Betriebsunfall und Kriegsnebenprodukt – und dass trotzdem diese nationalsozialistische Ideologie nicht aus dem politischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts herausfällt, sondern nur die systematische und radikale Zusammenfassung der Gang-und-Gäbe-Vorstellungen der politischen, anti-liberalen Rechten war. Der Nationalsozialismus ist meines Erachtens weder historisch als Ideologie und Herrschaftsform, noch aktuell als politisches Phänomen aus dem allgemeinen Kontext der politischen radikalen Rechten herauslösbar – und das ist viel bedrohlicher, als wenn es sich um einen bloßen Amoklauf vereinzelter verirrter völkischer Wirrköpfe gehandelt hätte.

Wenn wir Faschismus als Ideologie als Radikalisierung gängiger nationaler Integrationsvorstellungen hin zu dem kämpferischen Ideal einer widerspruchsfreien, korporativen, aber weiterhin kapitalistischen Gesellschaft definieren, dann ist der Nationalsozialismus eine faschistische Ideologie – das heißt keineswegs, dass damit alles über ihn gesagt ist. Über die Bundesrepublik Deutschland ist ja auch nicht alles gesagt, wenn wir sie als parlamentarische Demokratie bezeichnen.

Um Ihre Frage konkret zu beantworten: Für die konkrete historische oder politikwissenschaftliche Analyse ist es sinnvoll, von „Nationalsozialismus“ zu sprechen, und nicht von Faschismus, wo vom Nationalsozialismus die Rede ist, alles andere ist eher verwirrend. Das schließt aber nicht aus, den Nationalsozialismus als „radikalfaschistisch“ einzuordnen.

Dem, was sie ausgeführt haben, als Besonderheiten des nationalsozialistischen Weltbildes, kann ich weitgehend zustimmen, auch wenn ich Ihre These, dass der Rassismus im italienischen Faschismus zu Beginn keine Rolle gespielt hat, angesichts der anti-slawischen Polemik im Kampf um Triest, die der Beginn des Aufstiegs als politische Bewegung war, etwas fragwürdig finde. Fakt ist aber doch, dass der Welterlösungs- und Vernichtungsgedanke des NS seinen Ausgang vom beleidigten deutschen Nachkriegsnationalismus nahm, ebenso wie der italienische Faschismus nur die radikalste Äußerung der Enttäuschung des italienischen Nationalismus über Versailles war. Das ist eben nicht „ganz anders“, wie Sie es behauptet haben. Fakt ist doch, dass die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten vor 1944 ihre ideologische Verbundenheit nicht bestritten haben. Fakt ist doch auch, dass eine ganze Reihe von rechtsautoritären Bewegungen in West-, Nord- und Osteuropa zunächst den italienischen Faschismus als Modell sahen und sich in den 1930er Jahren ideologisch dem Nationalsozialismus näherten, auch in Sachen Antisemitismus. Was nichts daran ändert, dass die Vernichtung der europäischen Juden ein deutsches Projekt war, und eben kein ungarisches, rumänisches, norwegisches oder belgisches.

Um es mal salopp zu sagen: Für viele Faschisten war der Nationalsozialismus eine stimmige, wenn auch manchmal etwas sehr radikale Konsequenz ihres eigenen Denkens und so haben sie es auch gesehen.

Ich stimme Ihnen ja zu, dass italienische Faschisten und deutsche Nationalsozialisten zunächst Unterschiedliches meinten, wenn sie von „Nation“ redeten, nämlich einmal eher den Staat und einmal das „Volk“, verstanden als ständisch gegliederter Organismus. Nur: auch der italienische Faschismus war keine inhaltsleere Begeisterung für den Staat an sich, sondern für ein politisches Programm, das dieser umsetzen sollte, und der Nationalsozialismus hat bei aller Polemik gegen Staatsvergötzung und das „Mechanische“ und „Künstliche“ des Staates daran festgehalten, dass der Staat wichtiges, sogar wichtigstes Mittel zum Zweck sei.

Ende Teil 1