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Noch nichts gelernt

 

Oder: von der Erkenntnis, dass Rechtsextremismus nicht nur in der NPD stattfindet.

Es ist ziemlich genau einen Monat her, dass der Attentäter Anders Breivik in Norwegen  innerhalb weniger Stunden 77 Menschen ermordet hat. Wie wir heute wissen, war die monströse Tat intensiv vorbereitet und mit einer umfangreichen Schrift ideologisch begründet worden. Unbestritten ist, dass dieser Massenmord vor dem Hintergrund einer rassistischen, islamfeindlichen und insgesamt extrem rechten Gesinnung verübt wurde. Die Anschläge kamen dabei völlig überraschend – weder von Sicherheitskräften, noch durch die Wissenschaft waren in der Vergangenheit Szenarien zu hören, die vor einem Attentat in dieser Dimension und mit dieser politischen Motivation gerechnet hätten. Der Fall Breivik müsste damit Ausgangspunkt zu einer völlig neuen Sichtweise des europäischen Rechtsextremismus und seiner Gefahren werden. Umso mehr verwundert es jetzt, dass man in den einschlägigen Publikationen gegen Rechts nach einer pflichtschuldig anmutenden Berichterstattung inklusive Empörung wieder zum Tagesgeschäft übergegangen ist, nämlich der akribischen Aufzählung neonazistischer Auftritte, vornehmlich der NPD, in den diversen Wahlkämpfen.

Dass der Verfassungsschutz sehr schnell Entwarnung gab, verwundert nicht. Schließlich arbeitet dieses Amt innerhalb gesetzlich definierter Regelungen, die eine klare Benennung des Objekts der geheimdienstlichen Beobachtungen fordert und eine stichhaltige Begründung, worin dessen Gefahr für den demokratischen Staat besteht. Einzelkämpfer, Spinner und vage ideologische Strömungen jenseits ihrer politischen Organisierung kommen dabei nicht vor.

Doch auch die antifaschistische Bewegung und die diversen Bündnisse gegen Rechts halten unvermindert daran fest, lediglich die rechtsextremen Organisationen und deren Protagonisten im Auge zu behalten. Verfassungsschutz und Antifa übersehen dabei in seltener Einmütigkeit, dass sich die tatsächliche Gefahr von rechten Organisationen wie mehr und mehr verlagert auf ein diffuses Feld rechtsextremer Ideologiefragmente und deren stiller Anhängerschaft.

Bei den bekannten rechtsextremen Organisationen lässt sich immer deutlicher feststellen, dass es diesen nachhaltig misslungen ist, sich als politische Akteure mit einer nennenswerten Gefolgschaft zu etablieren; das ist durchaus als Erfolg des zivilgesellschaftlichen Widerstands zu sehen. Sicherlich ist der schleichende Niedergang rechtsextremer Organisationen aber auch eine Konsequenz aus dem braunen Muff, den NPD und Konsorten nicht abzustreifen vermögen. Abzusehen ist jedenfalls, dass die organisierte Szene immer kleiner, regional beschränkter und älter wird. Wahlerfolge bleiben aus, dagegen wird der bis jetzt aufgebaute Apparat immer weniger finanzierbar. Um nicht falsch verstanden zu werden: der organisierte Rechtsextremismus bleibt wohl leider auch in Zukunft ein Übel ersten Grades, zumal dort, wo er sich etabliert hat.

Unübersichtlicher und wesentlich dynamischer scheint dagegen das Feld der nicht organisierten, nicht bekannten und anonymen Anhängerschaft rechter Ideologiefragmente zu sein. Diese ist  in den herkömmlichen Kategorien nicht greifbar. Wahrscheinlich ist es gerade diese massenhafte Anonymität, die diese Form des Rechtsextremismus so zeitgemäß macht. Und es ist die Unvorhersehbarkeit, die ihn so gefährlich macht. Seine Ideologiefragmente sind nicht mehr in einem klar umrissenen Programm aufeinander abgestimmt und diskutierbar. Wie beim norwegischen Attentäter Breivik  ähneln sie eher einem Flickenteppich unterschiedlicher Vorurteile und Erklärungsversuche einer zu komplexen und als diffus bedrohlich empfundenen Welt. Die Ideologiefragmente finden ihren Weg über die unterschiedlichsten mediale Kanäle, allen voran über Weblogs, Diskussionsforen, Youtube-Videos, bis sie auf den fruchtbaren Boden der ressentimentgeladenen Einstellungsmuster in weiten Teilen der Bevölkerung fallen. Symptom für diese Verschiebung ist auch, dass rechte und rassistische Übergriffe eher von nichtorganisierten Tätern begangen werden und eben nicht von den aktiven Kadern.

Es wäre also an der Zeit, sich nicht mehr nur mit dem NS-Trachtenverein herkömmlicher Erscheinungsform zu beschäftigen, sondern sich intensiv dem offenen Feld des genannten diffusen Rechtsextremismus zu widmen. Neben einer komplizierteren – weil weniger greifbaren – Analyse wäre auch die Entwicklung von Gegenaktivitäten schwierig: der Ruf nach Verboten wäre unsinnig, öffentliches Anprangern, Plakatieren und Demonstrieren hätten es mangels eindeutig zu identifizierender Gegner ebenso schwer. Was bliebe, wäre die inhaltliche Auseinandersetzung: nicht nur mit den rechtsextremen Positionen – denn die sind und bleiben menschenfeindlich – sondern auch mit den Alternativen. Eine intensive Auseinandersetzung darüber, was unsere Gesellschaft eigentlich zusammenhält und wie wir zusammen leben wollen, fehlt es bisher allerdings an Übung.

Es fehlt aber auch an der Einsicht, dass unsere Gesellschaft weitaus weniger aus klar abgrenzbare Institutionen besteht, sondern einer Vielzahl innerer und zum Teil gegenläufiger Dynamiken unterworfen ist, die vollkommen nachzuvollziehen eigentlich unmöglich ist. Aber genau darauf sich einzulassen, sich quasi auf Spurensuche menschenfeindlicher resp. rechtsextremer Ideologiefragmente zu machen, erscheint mir als das derzeit wirklich Notwendige.

Vielleicht wäre es besser, wenn sich unsere Gesellschaft in ihrer Einschätzung des Rechtsextremismus zukünftig nicht nur von den Expertisen der Verfassungsschutzämter leiten lässt oder der moralischen Empörung der Antifa-Aktivisten, sondern in gleichem Maße von den differenzierten Einschätzungen der Sozialwissenschaftler. Mit Studien wie beispielsweise Heitmeyers „Deutsche Zustände“ oder „Die Mitte in der Krise“ der Friedrich-Ebert-Stiftung liegen hilfreiche Ansätze für eine solche Annäherung an die Realität vor. Erstaunlich dabei ist allerdings, dass sie bisher lediglich zur Kenntnis genommen wurden, ohne dass daraus irgendwelche Konsequenzen gezogen wurden. Erstaunlich ist auch, wie unverbunden die genannten Studien zu allen Programmen und Aktionen stehen, die bisher gegen Rechts unternommen wurden. Spätestens nach den norwegischen Attentaten wäre es an der Zeit, das zu ändern.