Das rassistische Pogrom in Rostock Lichtenhagen im Jahr im August 1992 war nicht das erste seiner Art: ähnliche Belagerungen und Angriffe hatte es bereits ein Jahr zuvor im sächsischen Hoyerswerda und im Mai 1992 in Mannheim in Baden Württemberg gegeben. Flankiert wurden diese Vorfälle bundesweit unter anderem von sich häufenden Übergriffen sowie Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime und Wohnhäuser.
Entgegen der landläufigen Meinung handelte es sich nicht um ein „ostdeutsches Phänomen“: die meisten und schwerwiegendsten Brandanschläge mit mehreren Toten, Angriffe auf Migrant_innen, Linke und Obdachlose fanden in den Bundesländern der alten BRD statt. Die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen aber sind die schwersten pogromartigen Ausschreitungen in Deutschland nach 1945. Sie richteten sich über Tage gegen die Bewohner_innen der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZAst) im sog „Sonnenblumenhaus“, die eine Woche später an einen anderen Ort verlegt werden sollte. Auch die vietnamesischen Vetragsarbeiter_innen im Nachbarhaus werden zum Ziel des rassistischen Mobs, auch dort fliegen Steine und Brandsätze. Der Staat kapituliert und räumt die ZAst, den Vietnames_innen rät die Politik, sich ruhig zu verhalten und sich nicht zu zeigen – so könne die Situation beruhigt werden. Am Abend des dritten Tages der Angriffe kapituliert auch die Polizei vor dem Mob, zieht ihre Einsatzkräfte ab und liefert die verbleibenden rund 110 Personen im Wohnheim der Willkür ihrer Angreifer_innen aus.
„Eine akute Gefährdung war nicht gegeben“ (Lothar Kupfer, damaliger Innenminister MVP)
Rund 3000 Personen rotten sich vor dem Gebäude zusammen: mit Baseballschlägern bewaffnet stürmen sie das Gebäude, zerstören die Einrichtung und legen in den unteren Etagen Feuer. Begleitet werden sie dabei von Johlen, Klatschen und rassistischen Sprechchören wie „Wir kriegen Euch alle, jetzt werdet ihr geröstet“. Nur durch die eigenen Bemühungen und mit viel Glück können die Eingeschlossenen über eine Dachluke entkommen. Doch auch nachdem die Vietnames_innen und ihre Begleiter_innen in der Nacht an einen anderen Ort gebracht werden, verweigern die Behörden ihnen die Unterstützung. In der provisorischen Unterkunft in einer dunklen Turnhalle erklärt Rostocks Oberbürgermeister Klaus Kilimann: „Ich muss auch ganz deutlich sagen, das wir im Moment keine andere Möglichkeit haben, dass wir Sie bitten, weiter so geschlossen zusammen zu halten, denn das ist die einzige Möglichkeit, Sie wirklich auch alle wirksam zu schützen“. Eine Entschuldigung oder gar Entschädigung für die Opfer dieses Versuchs einer ethnischen Säuberung mitten in Deutschland gab es nicht, Innenminister Lothar Kupfer stellt im Nachgang fest, es sei doch niemand zu Schaden gekommen. Bei den deutschen Einwohner_innen hingegen entschuldigten sich Kommunalpolitiker_innen für „Unbill und die öffentliche Kritik“, die sie hätten erleiden müssen. Als Entschädigung für die „Unannehmlichkeiten“ dürfen die Nachbar_innen einen Monat mietfrei in Lichtenhagen wohnen.
„Eine kontrollierte Eskalation des Volkszornes“
Der damals im Wohnheim mit eingeschlossene Journalist Jochen Schmidt schreibt zehn Jahre später über die Ausschreitungen, sie könnten von Seiten der Politik als „eine kontrollierte Eskalation des Volkszornes“ geplant worden sein „mit dem Ziel, die SPD zum Einlenken in der Asylfrage zu zwingen“: die Bundesregierung könne „Lichtenhagen als ein letztes schlagkräftiges Argument“ benutzt haben. Bei einem Blick auf das Verhalten der SPD liegt dieser Schluss nicht fern, denn mit der „Petersberger Wende“ der Partei im August 1992 und der darin verankerten „Neuorientierung in der Asyl- und Außenpolitik“ willigt die SPD in die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland ein. Heribert Prantl schreibt dazu in der Süddeutschen Zeitung: „Es ist, als hätten die Randalierer von Rostock die Türen zu den Sitzungssälen aufgestoßen“. Damit hält in der Verfassung das rassistische Konstrukt Einzug, der Andrang von Flüchtlingen mache es notwendig, das alte Asylrecht zu ändern. Das Vorhaben signalisiert eine im Nachkriegsdeutschland bis dahin einzigartige Anerkennung rassistischer Grundhaltungen und rassistischen Handelns, die in der Öffentlichkeit unverhohlen zum Ausdruck kommt. Während der damalige Ministerpräsident von Mecklenburg Vorpommern, Berndt Seite, einen Schaden der „Vorfälle“ einzig für „das deutsche Ansehen in der Welt“ fürchtet, steht seine Konsequenz bereits wenige Tage nach den Übergriffen fest: „Vor diesem Hintergrund bleibt die Forderung nach einer Ergänzung des Grundgesetzes das wichtigste politische Ziel, um die Handlungsfähigkeit des Staates wieder herzustellen“. Publizistisch und politisch war monatelang der Boden für den völkischen Konsens bereitet worden, rassistische Einstellungen wurden zu „Bedrohungsängsten“ und zur „nationalen Existenzfrage“ (Björn Engholm, SPD) stilisiert. Die praktische Umsetzung dieser Strategie auf der Straße lässt nicht lange auf sich warten. Nicht nur in Südniedersachsen sehen sich die Nazis bestätigt und verüben Anfang der 1990er Jahre gleich mehrere Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylbewerber_innen.
„Seit ich in Deutschland bin, habe ich Angst umgebracht zu werden“
Die Gesetzesänderung und ihre Vorbereitungen waren eine Kampfansage an diejenigen, die es wagen wollten, das Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen und drückte aus, am rassistischen Terror sind allein seine Opfer schuld. Wer darauf hinwies, dass die Gewalt in Rostock Lichtenhagen nicht dem Asylgesetz galt, sondern im Zweifelsfall auf die physische Vernichtung von Menschen zielte, wurde schroff in die Schranken gewiesen. Dies musste auch der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, im November 1992 bei einem Besuch in Rostock Lichtenhagen erfahren. Auf einer Pressekonferenz im Anschluss an den Besuch erklärte der Kommunalpolitiker Karlheinz Schmidt, die Heimat von Bubis sei Israel. Doch nicht nur die Politik schlägt sich auf die Seite des brandschatzenden Mobs: als Emnid in Deutschland im Oktober 1992 nach den Prioritäten des politischen Handelns fragt, antworten knapp drei Viertel der Befragten mit: „das Problem der Ausländer in den Griff bekommen“. Derart von der deutschen Bevölkerung und der Politik bestärkt, setzen die Neonazis auf der Straße ihre Rolle als Ordnungsfaktor konsequent um. Hatte sich die Zahl der Gesetzesverstöße mit extrem rechter Motivation schon 1991 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, geschah dies im Folgejahr noch einmal: 1992 registrierten die Behörden 7121 Straftaten von rechts (1). Mehr als zwei Drittel davon waren Gewalttaten, von denen wiederum zwei Drittel in den damals alten Bundesländern verübt wurden. Mindestens 18 Todesopfer fordert die rechte Gewalt im Jahr 1992, darunter sind Yeliz und Bahide Arslan sowie Ayşe Yılmaz . Sie sterben kurz vor dem „Asylkompromiss“ bei einem Brandanschlag auf ein von türkischen Familien bewohntes Haus in Mölln, neun weitere Personen erleiden zum Teil schwere Verletzungen. Weil über den Anschlag auch in anderen Ländern berichtet wird, fürchtet Deutschland um sein Ansehen und zündet mit staatlich abgesegneten Lichterketten Nebelkerzen gegen „Fremdenhass“. Und die Strategie kommt an: „Die Lichterkette gegen den Rassismus ist zu einer großen, fast feierlichen Darbietung eines neuen Gemeinschaftsgefühls geworden“, schreibt die „Frankfurter Rundschau“ am 23.12.92. Aus Raider wurde Twix und aus der Volksgemeinschaft ein „Gemeinschaftsgefühl“, das sich nicht mehr verstecken muss: eine Manifestation auf dem Boden eines in Gesetze gegossenen Rassismus, von dem fortan nicht mehr die Rede ist. In aller Munde ist jetzt „der Extremismus“, dem Bundeskanzler Helmut Kohl in der Bundestagsdebatte im Dezember 1992 den Kampf ansagt – wohl wissend, dass die Union die Wähler_innen zurück gewinnen muss, die sie an die extrem rechten „Republikaner“ um Franz Schönhuber verliert. Und nach der Änderung des Asylgesetzes freute sich CDU-Innenminister Kanther über stark gesunkene Flüchtlingszahlen: „Dieses Ergebnis wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat“. „Hitzegrade“, die zu diesem Zeitpunkt längst nicht nur in Mölln zu tödlichen Bränden geworden waren.
Ein Sommerlochthema und der folgenlose „Aufstand der Anständigen“
Acht Jahre später ruft der zuvor zum Kanzler gewählte SPD-Politiker Gerhard Schröder nach einem Neonazi-Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf einen „Aufstand der Anständigen“ aus. Drei Monate vorher waren bei einem extrem rechten Bombenattentat auf jüdische Aussiedler_innen in Düsseldorf zehn Personen zum Teil schwer verletzt worden – Ermittler prüfen noch, ob der Anschlag dem Neonazi-Netzwerk „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) zugerechnet werden kann. Schon in ihrer Koalitionsvereinbarung hatte Rot-Grün zwei Jahre vorher proklamiert, „Die neue Bundesregierung wird sich die politische Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung von Rechtsextremismus zu einem Schwerpunkt machen“. Solche Töne waren von der alten Regierung unter Kohl nie zu hören gewesen, doch es sollte noch zwei Jahre dauern, bis erst die Medien ihren vermeintlich „antifaschistischen Sommer“ ausriefen und anschließend die Regierung eine „umfassende Kampagne gegen Rassismus und Rechtsextremismus“ initiierte. In seinem Aufruf betont Schröder: „Wegschauen ist nicht mehr erlaubt. Und der Hinweis, ich bin nicht betroffen und ich denke ja auch gar nicht daran, so etwas gut zu finden, reicht nicht mehr aus. Was wir brauchen, ist ein Aufstand der Anständigen in Deutschland. Und ich weiß, dass das die übergroße Mehrheit ist“. Es muss erwähnt werden, dass diese Debatte dazu führte, dass erstmals in der bundesdeutschen Öffentlichkeit über die extreme Rechte und Rassismus gestritten wurde und zu ihrer Bekämpfung größere Geldsummen bereit gestellt wurden. Gleichzeitig wird schnell deutlich, dass der sog. „Aufstand“ der politischen Klasse als Schadensbegrenzung dient, um den Standort Deutschland im Ausland wieder ins rechte Licht zu rücken. Nicht nur dass dem „Aufstand“ die Umsetzung ernsthafter Maßnahmen fehlt, parallel dazu brechen Politik und Medien die unsägliche Debatte über eine „deutsche Leitkultur“ vom Zaun, der sich die Migrant_innen annehmen sollen, wie der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, fordert. Gleichzeitig kündigt er an, seine Partei werde das Asylrecht zu einem zentralen Wahlkampfthema machen, denn eine „Lösung der Probleme im Bereich der Zuwanderung“ sei längst „überfällig“. Diese Äußerung steht dem „guten Deutschland“ ebenso wenig im Weg wie Schröders Auftritt als Festredner beim „Bund der Vertriebenen“, der vor allem für eine geschichtliche Umkehrung der Deutschen als Opfer steht. Denn die Politik macht da weiter, wo Kohl 1992 begonnen hatte: sie malt ein Bild des „Rechtsextremismus“ als extremistisches Randproblem, von dem sich die so genannte Mitte nur hinreichend abgrenzen müsse. Damit entlastet sie sich selbst von der Verantwortung für prügelnde und mordende Nazis, aber auch von dem rassistischen Gesellschaftsklima mit seinen Auswüchsen. Mit dem Antitolitarismus als Staatsdoktrin wird der Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft flugs zum Randgruppenphänomen umgedeutet. Und prompt werden die selbst konstruierten „extremistischen“ Ränder der Gesellschaft zum Feind – egal ob links oder rechts. Wie das funktioniert, führt Innenminister Otto Schily (SPD) bei einer Veranstaltung des „Bündnis für Demokratie und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt“ mit der Bemerkung vor, das Bündnis richte sich „gegen vagabundierende Gewalt, gleichermaßen gegen Gewalt von rechts und von links“. Von dem rassistischen Normalzustand mit seinen gewalttätigen Folgen für Migrant_innen in Deutschland ist da keine Rede mehr. Dabei entspricht die Behandlung von Migrant_innen, eigens für sie kreierte Sondergesetze und ihre Sanktion mit institutionellen Machtmitteln schon längst der international gebräuchlichen Definition des Rassismus. Ein Jahr nach der Ausrufung des „Aufstands“ stellt Siegfried Jäger vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) die Frage, ob „wir einer gesellschaftlichen Entwicklung entgegensehen, die (…) eine Gesellschaft zur Folge haben könnte, die autoritär, gefährlich und für viele Menschen höchst bedrohlich sein könnte, weil in ihr Irrationalität zur Vernunft umgedeutet und damit normalisiert wird“. In seiner Antwort kommt Jäger zum Schluss: „Anzeichen dafür sind vorhanden. Sie liegen in der Fortdauer völkisch-nationalistischen und technisch-instrumentellen Denkens in größeren Teilen der Bevölkerung, einschließlich zumindest eines Teils der gesellschaftlichen Eliten und selbst der Wissenschaft, in der Spaltung von Menschengruppen in nützliche und unnütze Mitglieder unserer Gesellschaft und in einer Leugnung oder doch Verharmlosung des alltäglichen institutionellen Rassismus“ (DISS-Journal 7/2001). Fast wie zur Bestätigung kommt es ein Jahr nach Jägers Anmerkung und kurz vor dem zehnten Jahrestag der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen zu erneuten Brandanschlägen auf das „Sonnenblumenhaus“ in Rostock Lichtenhagen sowie auf ein Büro der Arbeiterwohlfahrt und einen Asia-Laden in der Nähe des Hauses. Und auch der deutsche Mob wütet weiter, wenn auch in anderen Dimensionen. Nach dem Stadtfest in der sächsischen Kleinstadt Mügeln im Jahr 2007 startet ein Mob eine Hetzjagd auf acht Inder, bis sich die Opfer in einer Pizzeria verschanzen. Unter altbekannten Rufen wie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ versuchen die Rassisten in das Gebäude einzudringen, die acht Männer werden schwer verletzt. Mügelns Bürgermeister Gotthard Deuse kommentierte die Rufe mit den Worten „Solche Parolen können jedem mal über die Lippen kommen“, das Gericht wollte bei den folgenden Prozessen gegen vier Männer keinen rechtsextremen Hintergrund erkennen. Ein Jahr später sprach Deuse gegenüber einem ARD-Team von „nicht wenigen Ausländern, die in Mügeln wohnen“ – tatsächlich sind es 27 Personen. Beim Stadtfest im Jahr 2008 begrüßt Deuse seine Gäste zum „richtig zünftig feiern“ mit den Worten „Wir haben ein Recht zu feiern, der Blick zurück hilft uns nicht weiter“. Als die Reportage kurz danach ausgestrahlt wird, wird ein Augenzeuge, der dem Sender ein Interview gab, überfallen und schwer verletzt – deutsche Normalität im 21. Jahrhundert.
Rassismus tötet: eine Blutspur führt durch Deutschland
Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mügeln sind nur drei von vielen Beispielen, wie der deutsche Rassismus immer wieder die vorübergehende Errichtung von „No Go Areas“ ermöglicht und mit ihnen eine Geographie der Angst schafft. Als Konsequenz hatte sich der Afrika-Rat Berlin Brandenburg im Vorfeld der Fußball WM 2006 überlegt, eine Karte mit „No Go Areas“ zu veröffentlichen, um Besucher_innen zu warnen. Vorher hatte schon der SPD-Politiker Carsten Heye in einem Interview gesagt: „Es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen. Er würde es möglicherweise nicht mehr lebend verlassen“. Der erneute Anstieg der „Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund“ 2011 gibt Heye noch heute recht, doch mindestens die vergangenen 20 Jahre sollten zeigen, dass solche Gebiete erst durch die rassistische Kumpanei mit der Gewalt entstehen können. Die Voraussetzungen dafür sind auch zwei Jahrzehnte nach den pogromartigen Ausschreitungen in Rostock vorhanden. Die Macher_innen der Studie „Die Mitte in der Krise“ aus dem Jahr 2010 kommen zum Schluss, dass die „Ausländerfeindlichkeit“ erneut angestiegen ist. In den Ergebnissen heißt es: „Durchgängig mehr als 30% der Deutschen stimmen folgenden Aussagen zu: ‚Ausländer kommen, um den Sozialstaat auszunutzen‘, bei knappen Arbeitsplätzen ’sollte man Ausländer wieder in ihre Heimat schicken‘ und durch ‚die vielen Ausländer‘ werde Deutschland ‚in einem gefährlichen Maß überfremdet’“(1). Wäre es spätestens nach dem Auffliegen des NSU an der Zeit gewesen, den Rassismus der so genannten Mitte zu thematisieren, lenkt ein mögliches erneutes NPD-Verbot davon ab und der Rassismus wird den braunen Schmuddelkindern zugeschoben. Bei einer Demonstration im Januar 2012 erklärt die Gruppe „Café Morgenland“, mit den Bildern und Fakten der 1990er Jahre im Kopf seien die Morde nicht überraschend und kommt zu dem Schluss: „Die Nazi-Morde sind die Fortsetzung der Pogrome der 90er Jahre mit anderen Mitteln“. Besonders die Ermittlungen der Behörden zum NSU werfen die Frage nach einem Umgang mit dem institutionellen Rassismus auf: wenn Migrant_innen vor allem als potenzielle Kriminelle wahrgenommen werden, wenn eine „Sonderkommission Bosporus“ die Drahtzieher der „Döner-Morde“ sucht und wenn auf Kosten der Angehörigen Märchen von Morden im Drogenmilieu kolportiert werden. Auch beim Umgang mit den Todesopfern rechter Gewalt in Deutschland manifestiert sich der arrogante Blick der selbst ernannten Mitte. Seit 1990 sind nach Angaben des Opferfonds CURA der Amadeu Antonio Stiftung mindestens 182 Menschen durch die Folgen menschenfeindlicher Gewalt ums Leben gekommen. Die Bundesregierung hingegen erkennt knapp 120 Todesfälle nicht an und spricht herabwürdigend lediglich von 63 Todesopfern. Statt einer staatlichen Anerkennung der Opfer wird die rassistische Stigmatisierung weiter fortgesetzt und von Gesetzes wegen durchgewunken, wie ein Gerichtsurteil aus Koblenz aus dem Februar 2012 zeigt. Es erlaubt der Bundespolizei, sich bei „verdachtsunabhängigen Kontrollen“ Fahrgäste allein wegen ihrer Hautfarbe vorzunehmen. Pro Asyl nennt dieses so genannte Ethnic Profiling „rassistische Stigmatisierung von Staats wegen“. Den Rassismus zu thematisieren fordern nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie auch Mobile Beratungsteams und Beratungsprojekte für Opfer rechter Gewalt in einem Aufruf: „Es ist unbegreiflich, dass im Zusammenhang mit den NSU-Morden von ‚Fremdenfeindlichkeit‘ die Rede ist. Die Ermordeten waren mitnichten ‚Fremde‘, ‚Türken‘ oder ‚Griechen‘, sondern repräsentieren die Mitte unserer Gesellschaft. Es ist Zeit, endlich von Rassismus und dem Wahn der ‚White Supremacy‘ zu sprechen, denn dies war das Motiv der Neonazis“. Während also die „Döner-Morde“ zum Unwort des Jahres 2011 gekürt wurden, findet der staatlich anerkannte Rassismus altbekannte Worte zur Abwertung der Anderen. Diese gesellschaftliche Grundlage dürfte auch die extreme Rechte weiter bestärken, wenn sie sie vom vermeintlich drohenden „Volkstod“ schwafelt und „ein Zeichen gegen die Überfremdung“ setzen will. Dafür warben Hamburger Neonazis mit dem Zitat eines prominenten SPD-Mitglieds: „Wenn das so weitergeht, gibt´s Mord und Totschlag, denn es sind zu viele Ausländer bei uns“. Der Aufkleber mit dem Ausspruch von Altbundeskanzler Helmut Schmidt aus dem Jahr 1994 ist mitnichten die „Unverschämtheit des Jahres“, zu der sie die Hamburger Morgenpost am 24.12.2011 kürt. Er greift vielmehr den institutionellen Rassismus in Deutschland auf, der das Signal setzt „Ausländer sind hier unerwünscht“ und nicht selten in Gewalttaten gegen Migrant_innen mündet. Wer davon nicht spricht, sollte vom Gedenken an die Ausschreitungen in Rostock, Mannheim und Hoyerswerda schweigen.
AG wider den rassistischen Mob, Göttingen
(1): Aufgrund der nicht genannten Dunkelziffer ist erfahrungsgemäß von einer höheren Zahl auszugehen