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Das Kartell der Verharmloser

 

Ein Dreivierteljahr nach dem Bekanntwerden der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) untersucht die Amadeu Antonio Stiftung in ihrem neuen Bericht „Das Kartell der Verharmloser – Wie deutsche Behörden systematisch rechtsextremen Alltagsterror bagatellisieren“, ob und inwiefern sich die Bemühungen seitens der Behörden im Kampf gegen Rechtsextremismus verändert haben. Das Fazit ist ernüchternd: Nicht nur werden engagierte Bürger und Kommunen weiterhin unzureichend finanziert, rechtsextreme Übergriffe und Straftaten werden sogar ignoriert und verharmlost.

Von Netz-gegen-Nazis-Autor Tenzin Sekhon

Anlass für die Broschüre war der von allen Bundestagsfraktionen gemeinsam eingebrachte Entschließungsantrag, der als Reaktion auf die NSU-Mordserie einstimmig vom Bundestag verabschiedet wurde. In dem Antrag heißt es, der Bundestag werde die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus fortsetzen und die Konsequenzen für die Arbeit der Sicherheitsbehörden ziehen. Darüber hinaus wird eine dauerhafte Unterstützung des Engagements gegen Rechtsextreme und eine Überprüfung der bisherigen Herangehensweisen garantiert. Da die Amadeu Antonio Stiftung den Entschließungsantrag unterstützt, wurde die Studie in Auftrag gegeben, um noch ausstehende Hürden und Problematiken zu erkennen. Im Auftrag der Stiftung recherchierte die Politikwissenschaftlerin, Publizistin und ehemalige Spiegel-Korrespondentin Marion Kraske in acht Bundesländern, wie Polizei und Politik mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Diskriminierungsformen umgehen.

Institutionalisierte Verharmlosung

Auf der Pressekonferenz am 14.08.2012 in Berlin machte die Autorin jedoch schnell deutlich, dass die auf der Reise quer durch Deutschland gewonnen Erkenntnisse und Erfahrungen kaum positive Ansätze für Veränderungen bei den Behörden erkennen lassen. Vielmehr sei auf schockierende Art und Weise deutlich geworden, dass eine tiefgründige und überzeugte Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus und rechtsextremen Übergriffen weiter ausstehe. Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, kommentierte dazu treffend: „Die Taten der NSU sind nur die Spitze eines Eisberges rechter Gewalt, der sich in vielen Kommunen als Alltagsterror darstellt“. Es fehle der politische Wille, Rechtsextremismus entschieden entgegen zu treten, wodurch dem Entstehen einer Drohkulisse freien Lauf gelassen wurde: „Im Prinzip besteht keine Freizügigkeit in Deutschland“, Menschen mit Migrationshintergrund könnten in manchen Regionen Deutschlands von ihrem Grundrecht der Freizügigkeit keinen Gebrauch machen. Zudem sei das Problem nicht nur auf Ostdeutschland zu beschränken, fügte Marion Kraske hinzu. Über Jahre hinweg wurde die Gefahr, die von Rechtsextremen ausgeht, in Westdeutschland ignoriert und verharmlost. Als Konsequenz konnten sich viele Kameradschaften und sogennante „Freie Kräfte“ der rechtsextremen Szene vor allem in ländlichen Regionen Westdeutschlands etablieren.

Erschreckende Opfer-Täter-Umkehr

Eine gängige Strategie der Behörden, mit rechtsextremen Übergriffen umzugehen, ist nicht nur die Verharmlosung der Straftaten, sondern auch die Umkehr von Opfern und Tätern. Dies habe sie auf ihrer Reise oft beobachten können, erklärt Marion Kraske. So erzählt sie beispielsweise von einem Chemnitzer Restaurantbesitzer, der ein jüdisches Restaurant mit dem Namen „Schalom“ betreibt. Das einzige koschere Gasthaus in ganz Sachsen ist ständig Nazi-Attacken ausgesetzt, die von Hakenkreuzen an den Wänden über eingeworfenen Scheiben bis hin zu einem Schweinskopf vor der Haustür reichen. Die Schäden der Angriffe betragen mittlerweile mehr als 40.000 Euro, die Versicherung zahlt nicht mehr. Bei über hundert Übergriffen waren die Behörden angeblich nicht in der Lage, die Täter zu fassen. Vielmehr wurde der Betreiber des Restaurants für die Schäden selbst verantwortlich gemacht: Er dürfe sich über die Aufmerksamkeit, die auf ein Restaurant mit so einem Logo gerichtet wird, nicht weiter wundern.

Zynische Täter-Opfer-Umkehr: Deutschland sei offenbar für Asylsuchende „zu unsicher“

Ein weiteres schockierendes Ausmaß erreichte die Opfer-Täter-Umkehr in Chemnitz, als ein Asylbewerber, der Opfer rechter Gewalt geworden war, des Landes verwiesen wurde. Der Asylantrag wurde mit der Begründung abgelehnt, Deutschland sei für den Asylsuchenden ein zu unsicherer Ort. Im Prinzip wurde das Opfer rechter Gewalt abgeschoben, wodurch auch ein wichtiger Zeuge im Gerichtsverfahren gegen die Täter nicht angehört werden konnte.

Solche Erfahrungen führen dazu, dass sich viele Opfer von den Behörden abwenden, erklärte Marion Kraske weiter. Viele hätten kein Vertrauen mehr in die Polizei und würden sich nicht mehr die Mühe machen, Übergriffe zu melden. Dadurch findet auch eine Verzerrung der Polizeistatistik statt, die dann von der Politik wiederum als positiv eingestuft wird.

Zivilgesellschaftliches Engagement erschwert

Doch auch engagierte Bürger*innen, die gegen Rechtsextreme vorgehen und arbeiten, werden von den Behörden im Stich gelassen. So beklagen viele der mobilen Beratungsteams, die in dem Bericht zu Wort kommen, mangelnde finanzielle Unterstützung sowie ein generelles Mißtrauen gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement gegen den Rechtsextremismus. Viele Kommunen verzichten auf Solidarität mit engagierten Bürgern, um den Ruf der Stadt oder der Institution zu wahren und zu vermeiden, als problematische Gegend zu gelten. Anstatt sich konkret mit der rechtsextremen Bedrohung auseinander zu setzen, wird sie ignoriert und stillschweigend zur Kenntniss genommen.

Diese Probleme kennt auch Katja Fiebiger von der Mobilen Beratung in Thüringen (Mobit). Sie beklagt, dass sich auf Landesebene in Thüringen nichts verändert hat, was die Finanzierung und Unterstützung engagierter Bürger*innen angeht. Stattdessen werde das Thema NSU ausgeschlachtet, um Personen auszutauschen. Auch Claudia Luzar von der Opferberatungsstelle „Back Up“ kennt diese Probleme und fordert eine Regelzeitfinanzierung für Opferberatungsstellen. Es sei unglaublich, dass sich Opferberatungsstellen jedes Jahr für die finanzielle Unterstützung der Behörden bewerben sollen und dabei neue Gründe für die finanzielle Unterstützung anführen müssten.

Auf die Frage hin, warum der Bericht keine Stellungnahmen der Polizei oder Politik beinhaltet, antwortete Time Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, dass man keine neue Sicherheitsdebatte entfachen wolle, wie sie zurzeit in der Öffentlichkeit betrieben wird. Stattdessen verdeutlicht der neue Bericht, dass engagierte Bürger*innen und Opfer rechter Gewalt trotz der NSU-Mordserie und dem Entschließungsantrag des Bundestages mit den gleichen Hindernissen seitens der Behörden konfrontiert werden, die seit Jahren die Arbeit gegen Rechtsextremismus erschweren. Die NSU-Ermittlungen und die Debatte um die Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollten, hat nicht dazu geführt, dass den Forderungen zivilgesellschaftlicher Akteure Gehör verschafft wurde. Im Gegenteil, sie scheint momentan dazu geführt zu haben, dass diese Forderungen weiter ignoriert werden und/oder komplett in der angehenden Sicherheitsdebatte untergehen.

Die komplette Broschüre gibt es hier als Download