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„Was bringt ein Verfassungsschutz, der…?“

 

Mit Claudia Schmid ist gestern die fünfte Verfassungsschutzpräsidentin zurückgetreten. Vier ihrer Kollegen haben bereits vor einiger Zeit nach immer größer werdenden Skandalen den Hut nehmen müssen. Doch obwohl der VS teilweise völlig außer Kontrolle ist, steht das System grundsätzlich nicht auf dem Prüfstand. Ein Kommentar.

Mittlerweile fünf Verfassungsschutzpräsidenten mussten gehen, gestern traf es mit Claudia Schmid auch das Berliner Landesamt. Für alle war die Wucht der enthüllten Skandale zu groß geworden, als das sie sich noch im Amt hätten halten können. Wenn man so will, sind sie gewissermaßen über die Schnipsel ihrer vernichteten Akten gestolpert.

Denn die Gründe waren bei allen nahezu identisch. Der ehemalige Bundesverfassungsschutzpräsident Heinz Fromm musste wegen einer kurz nach der NSU-Enttarnung vernichteten Akten zurücktreten, die womöglich einen Bezug zum Terror-Trio hatte. Thomas Sippel, Chef des Thüringer Amts, musst gehen, nachdem ihm Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) das Vertrauen entzogen hat. Der sächsische Amtskollege stolperte über Protokolle, die angeblich nicht mehr existierten sollten, in Wahrheit aber dennoch existiert haben. Und der Verfassungsschutzpräsident von Sachsen-Anhalt nahm seinen Hut, weil der VS ein Vernehmungsprotokoll von Uwe Mundlos besessen hatte, obwohl zuvor gegenteiliges behauptet worden war. Nun traf es Claudia Schmid, deren Amt bereits seit längerem in heftiger Kritik stand. So führte der Berliner Verfassungsschutz unter anderem einen V-Mann, der dem NSU wohl nahe war, fiel durch seine Geheimhaltung negativ auf und schredderte schließlich Akten, die möglicherweise von Relevanz gewesen wären.

Die Rücktritte sind folgerichtig, ja sogar notwendig. Doch damit alleine löst sich das Problem nicht, im Gegenteil. Vielmehr ist es doch so, dass genau das gleiche Problem bestehen bleiben – nur eben unter neuer Leitung. Nachdem immer neue, erschreckende Details über die epochale Verfehlungen der Verfassungsschutzämter bekannt werden, ist es an der Zeit weg von den Personaldebatten zu kommen und sich der Grundsatzfrage zu stellen. Was bringt ein Verfassungsschutz, der abseits jedweder Kontrolle operiert? Was bringt ein Verfassungsschutz, der jahrelang bemerkenswerte Fehleinschätzungen traf, wenngleich Rechtsextremismus-Experten vor ignorierten Gefahren warnten? Was bringt ein Verfassungsschutz, der die rechtsextreme Szene mit Geld finanziert? Was bringt ein Verfassungsschutz, der permanent nur lügt? Was bringt ein Verfassungsschutz, der V-Leute engagiert, die wiederum maßgeblich am Aufbau der Neonazi-Szene beteiligt sind? Und was bringt ein Verfassungsschutz, der mit großem Aufwand ein Netz an V-Leuten und verdeckten Ermittlern betreibt, am Ende aber nicht mehr weiß als beispielsweise Fachjournalisten oder antifaschistische Archive?

Es stellt sich schon die Frage, inwieweit eine Behörde tragbar ist, die gerade in der letzten Zeit – abgesehen von Fehlern – nichts vorweisen kann. Und eine Behörde, die noch immer durchaus Einschätzungen trifft, die entweder verwundern oder aber die Frage aufwerfen: „Wieso wird das erst jetzt als Erkenntnis präsentiert, das ist doch längst bekannt!“
Neben der Polizei, die ihre Ermittlungen lange Zeit über auf rassistische Stereotype gestützt hat, trägt nämlich auch der Verfassungsschutz eine ganz und gar maßgebliche Verantwortung dafür, dass viele Bürger ihr Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat verloren haben. Dieses Vertrauen wird vielleicht nie wieder ganz hergestellt werden können, der Schock wird mitunter dauerhaft bleiben. Das ist – sowohl im Vorfeld der NSU-Enttarnung als auch in dessen Nachgang – eine Schuld, die dem Bundesamt für Verfassungsschutz samt all seiner Landesämter in sehr großem Umfang zuzuweisen ist.

Und nach alle dem, was in der Zwischenzeit enthüllt wurde, ist es dringend nötig, sich die Grundsatzfrage zu stellen – auch dann, wenn man nicht auf die Auflösung des Amtes abzielt. Denn eine wirksame und effektive Veränderung der Sicherheitsarchitektur wird nur dann möglich sein, wenn man das Grundproblem angeht. Und das sind nicht zwingend die jeweiligen Behördenchefs, sondern viel eher das zu Grunde liegende System. Auch ein Inlandsgeheimdienst muss demokratisch legitimiert arbeiten und darf keines Falls der rechtsextremen Szene – wie in vielen Fällen geschehen – bei deren Aufbau helfen.