Auf Einladung von Barbara John, Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU, besuchen die Angehörigen der Toten in den kommenden Monaten die verschiedenen Gedenkorte für die Opfer der rassistischen Mordserie des selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrundes“. Der Auftakt fand am Montag in Rostock statt, wo die Neonazis 2004 Mehmet Turgut ermordeten.
Von Hannes Stepputat
Um 9 Uhr am Vormittag beginnt die Rundreise in einem Hotel neben dem Rostocker Rathaus mit einer Begrüßungsrunde. Prof. Barbara John und der Präsident der Rostocker Bürgerschaft, Dr. Wolfgang Nitzsche (Die Linke), heißen die Anwesenden „ganz herzlich“ in Rostock willkommen. Neben den etwa zwanzig Angehörigen sind auch Vertreter vom Migrantenrat, vom vietnamesischen Verein Dien Hong und der Landtagsabgeordnete Hikmat Al-Sabty (Die Linke) gekommen.
In einem Reisebus geht es dann mit etwas Verspätung in den Stadtteil Toitenwinkel, dorthin, wo Mehmet Turgut am 25. Februar 2004 in einem Imbissstand erschossen wurde. Bei kühlem, aber sonnigen Wetter legen Mustafa Turgut, der Bruder Mehmets, und die anderen Hinterbliebenen Rosen auf den beiden Betonbänken des Mahnmals ab, die im Februar 2014 zum zehnten Todestag offiziell eingeweiht wurden. Einige posieren für Fotos. Ortsamtsleiter Wolfgang Westphal erzählt vom Stadtteil und welche Funktion der kleine Verbindungsweg, in dem Mehmet Turgut starb, für die Bewohner Toitenwinkels hat, die hier zur Straßenbahn gehen. In der Nähe des kleinen Platzes stehen einige Zivilpolizisten mit Ohrknöpfen.
Westphal berichtet von der „schweren Diskussion in der Stadt, in welcher Form Mehmet Turgut gedacht werden soll“. Er sei aber froh, dass statt einer ursprünglich angedachten Straßenumbenennung nun „diese Form einer Gedenkstätte gefunden“ wurde und diese seit ihrem Bestehen „in einem ordentlichen Zustand ist“ – also nicht beschmiert oder geschändet wurde. Der Vorstoß eine Straße nach Mehmet Turgut zu benennen war schon im Frühstadium an der Blockadehaltung des Ortsbeirats, einer Art Stadtteilvertretung, gescheitert, dessen Zustimmung aber erforderlich ist. Auch Linkspartei-Vertreter hatten den Vorschlag abgelehnt. Weitere Gremien befassten sich danach nicht mehr mit dem Anliegen, dass trotzdem weiterhin von linken Gruppen und Migrantenverbänden unterstützt wird.
Auch die Familie Mehmet Turguts möchte eine Straßenumbenennung. Mustafa Turgut sagt am Abend im Gespräch, sie wünschten sich drei Dinge: Neben der Straßenumbenennung soll der tote Sohn und Bruder auf dem Mahnmal ein Gesicht bekommen. Ein Bild Mehmets fehlt bisher. Auf den Betonbänken ist nur eine Texttafel zu finden, die die NSU-Morde diffus als „bundesweite Mordserie“ bezeichnet. Die anderen Opfer und die rassistische und neonazistische Dimension der Verbrechen werden nicht erwähnt. Die Verantwortlichen in der Hansestadt könnten das leicht ändern, indem sie den dritten Wunsch erfüllen: Die Aufstellung einer Tafel mit der gemeinsamen Erklärung der Städte, in denen der NSU mordete. Der Wortlaut:
„Neonazistische Verbrecher haben zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen in sieben deutschen Städten ermordet: Neun Mitbürger, die mit ihren Familien in Deutschland eine neue Heimat fanden, und eine Polizistin. Wir sind bestürzt und beschämt, dass diese terroristischen Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden, was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder!“ Darunter folgen die Namen und Todesdaten aller Opfer. Auch die Stadt Rostock hatte den Text 2012 mitgetragen. Doch eine Tafel aufgestellt hat sie bis heute nicht.
Spende aus Thüringen
Ermöglicht werden die Besuche mit den Angehörigen laut Ombudsfrau John durch eine größere Geldspende des Landes Thüringen. Da Rostock als letzte Stadt einen Gedenkort schuf, habe man hier den ersten Besuch machen wollen, so John. Die gemeinsamen Treffen sind für die Familien der Opfer auch Gelegenheiten für Austausch und dennoch individuelle Auseinandersetzung mit ihrer Trauer. „Das Wichtigste ist, dass die Familien wieder Handelnde werden und aus der Opferecke herauskommen“, sagt John, bedauert aber, dass nie wirklich alle Hinterbliebenen teilnehmen könnten. Die nächsten Besuche finden erst im neuen Jahr statt.
Initiative will Stadt weiter unter Druck setzen
Dass um die Form des Gedenkens an Mehmet Turgut in Rostock weiter gerungen wird, kann man sich denken, wenn man den neuen Bürgerschaftspräsidenten Nitzsche nach den Planungen für den nächsten Todestag am 25. Februar fragt. Die gibt es nämlich noch nicht. Nitzsche sagt, er wolle sich zunächst mit dem Kulturamt abstimmen und dann die städtische Arbeitsgruppe „AG Gedenken“ zusammenrufen. Um deren Schwerpunktsetzung gab es in der letzten Legislaturperiode Auseinandersetzungen, denn die Stadtoffiziellen wollten in ihr ausschließlich das Gedenken an das rassistische Pogrom in Lichtenhagen 1992 bearbeiten. Erst auf Druck von außen kam Mehmet Turgut überhaupt auf die Tagesordnung. Lichtenhagen soll auch weiterhin den Schwerpunkt bilden, sagt Nitzsche. Die Initiative „Mord verjährt nicht“, die die städtische NSU-Gedenkpolitik kritisch begleitet, fürchtet, dass die Verwaltung mit der Einweihung des Mahnmals einen Schlussstrich unter die Angelegenheit ziehen möchte: „Die Stadt hat noch nicht alles in ihrer Möglichkeit stehende getan“, sagt Lars Oppelt, Sprecher der Initiative, und kündigt an, dass sich die Aktivisten weiterhin für eine Straßenumbenennung einsetzen werden.
Veranstaltungshinweis
Vortrag mit NSU-Watch: „Der NSU-Prozess“ am 3.11. um 20 Uhr im Rostocker Peter-Weiss-Haus.