Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Reichsbürger: Zu lang belächelt

 

Reichsbürger sind gefährlich – und wurden von den Sicherheitsbehörden zu lange ignoriert. Ein Buch analysiert, wie die rechtsextreme Bewegung systematisch unterschätzt wurde.

Von René Garzke

Reichsbürger: Zu lang belächelt
© Patrick Seeger/dpa

Spätestens seit vor anderthalb Jahren ein Reichsbürger im bayrischen Georgensgmünd einen SEK-Beamten erschoss, sind die Reichsbürger als Gefahr bekannt. Doch was diese Menschen antreibt, wie ihre Ideologie aussieht, wissen viele nicht.

Für die Sicherheitsbehörden gilt offenbar dasselbe: Im Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz etwa tauchen die Reichsbürger erstmals vor einem Jahr auf. Nach den Todesschüssen von Georgensgmünd. Sie markierten einen Wendepunkt für die Wahrnehmung der Szene, aber auch für ihre Radikalisierung, sagt der Journalist Andreas Speit. Er meint: Die Behörden hätten zu lange weggeschaut.

Keine harmlosen Spinner

Speit hat einen Sammelband unter dem Namen Reichsbürger – Die unterschätzte Gefahr herausgegeben. Gastbeiträge beleuchten die unheimliche Vielfalt der Reichsbürger-Szene: ihren gefährlichen Hang zu Waffen, ihre antisemitischen Erklärungsmuster oder den Umgang von Polizei und Verfassungsschutz mit den Menschen, die Deutschland nicht als Staat akzeptieren.

Zuvor seien sie fälschlicherweise oft als Spinner oder „Papier-Terroristen“ abgetan worden, die ihre Personalausweise abgaben oder Post von Ämtern ungeöffnet zurücksandten, sagte Speit kürzlich in Potsdam bei einer Vorstellung des im Herbst 2017 erschienenen Buchs. Das Phänomen sei auf die leichte Schulter genommen worden, obwohl Reichsbürger schon damals wiederholt Behördenmitarbeiter beschimpft und angegriffen hatten.

Briefe mit Morddrohung

Im Februar 2012 etwa hatte eine Gruppe namens Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen Drohbriefe an Moscheen und jüdische Gemeinden verschickt. Darin forderten sie „alle wesensfremden Ausländer in Deutschland, insbesondere Türken, Muslime und Negroide“ zur Ausreise auf und drohten denen, die sich weigern, mit Erschießung. Erst Anfang April hatte die Bewegung erneut Schlagzeilen gemacht: In Thüringen, Berlin und Brandenburg hatte es Razzien wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung gegeben. Eine Bande von Reichsbürgern soll versucht haben, eine Partisanenarmee aufzubauen, sich aktiv scharfe Waffen zu besorgen.

Reichsbürger: Zu lang belächeltEinem Bundesland aber bescheinigt Speit einen sensibleren Umgang mit der Reichsbürger-Szene: Brandenburg. Dort waren die Sicherheitskräfte schon wesentlich früher wachsam. Im Kampf gegen die Bewegung gilt das Land bundesweit als Vorreiter. Schon Anfang 2016 hatten Verfassungsschutz und Landeskriminalamt ein Handbuch für Behördenmitarbeiter herausgegeben, um den Umgang mit den Querulanten zu vereinheitlichen. Im vergangenen Jahr hatte der Reichsbürgerexperte des brandenburgischen Verfassungsschutzes, Michael Hüllen, davor gewarnt, dass Reichsbürger-Ideen immer stärker auch andere Gruppen wie Bio- und Vegan-Anhänger sowie Esoteriker beeinflussten. „Sie nehmen nicht mehr am Gemeinwesen teil. Das ist ein politisches Problem und ein Problem für die Sicherheitsbehörden.“

Auch die Bundesregierung unterschätzte das Problem

Im Bund dagegen sah das Bild lange anders aus, wie Mitautor Paul Wellsow im Buch dokumentiert. 2015 hatte die Bundesregierung in einer Drucksache noch behauptet: „Eine einheitliche Reichsbürger-Bewegung existiert nicht.“ Etwas konkreter sei die Regierung erst im Juli 2016 geworden, als sie von einem „angestiegenen Störerpotenzial“ sprach. Jedoch kam sie auch damals, wenige Monate vor den tödlichen Schüssen von Georgensgmünd, zu dem Ergebnis: „Bei Aktivitäten der Reichsbürger stellt sich (…) immer wieder die Frage der Ernsthaftigkeit der politischen Bestrebung.“ Die „unstrukturierte, zersplitterte Szene“ sei „bislang keine konkrete Gefahr“.

Der Verfassungsschutz ging im vergangenen Herbst davon aus, dass etwa 15.000 Menschen zur Reichsbürger-Szene gehören. Mittlerweile spricht das Amt von 18.000 Anhängern. Zur steigenden Zahl registrierter Fälle trägt laut Experten auch die erhöhte Wachsamkeit bei, die mehr Hinweise und Überprüfungen nach sich zieht.

Speits Buch gibt einen Einblick in die lange sträflich vernachlässigte Reichsbürger-Szene. Es ist Wissen, das sich lohnen dürfte: Nach dem konsequenten Wegschauen der Sicherheitsbehörden zählt auch die Expertise der Zivilgesellschaft.

„Reichsbürger – Die unterschätzte Gefahr“, Andreas Speit, 2017, 217 Seiten, 18 Euro; über die Bundeszentrale für politische Bildung ist eine Sonderausgabe des Buches für 4,50 Euro erhältlich.

Einen Auszug aus dem Buch hatte der Störungsmelder bereits bei dessen Erscheinen veröffentlicht.