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Reichlich Hinweise auf Rassismus

 

Hat die Essener Polizei ein Problem mit systemischem Rassismus? Ihr Chef glaubt: Nein. Doch Beamten seiner Behörde werden immer wieder schwere Verfehlungen vorgeworfen.

Von Dennis Pesch

Die Polizei in Essen ist durch rechtsextreme Chats unter Rassismusverdacht geraten (Symbolfoto). © dpa/Friso Gentsch

Am 18. Juni dieses Jahres steht der psychisch erkrankte Adel B. im Essener Stadtteil Altendorf auf der Straße. Er versucht, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen. Polizeibeamte rücken an, richten Waffen auf ihn. Irgendwann geht Adel B. nach Hause, die Polizisten folgen ihm. Als er sein Haus betritt, rennt ihm ein Polizist hinterher und erschießt ihn durch die Tür. Der 32-Jährige stirbt.

Die Polizei behauptete, B. sei mit dem Messer auf die Beamten zugestürmt. Sie hätten ihn in Notwehr erschossen. Das Video eines Anwohners zeigt, dass das so nicht stimmt. Die Mutter des Getöteten fragt sich bis heute: „Wäre mein Sohn auch gestorben, wenn er Thomas geheißen hätte? Hätte er psychologische Hilfe bekommen, statt von der Polizei erschossen zu werden?“

Polizeipräsident sieht keine Hinweise für rassistische Tendenzen

Knapp drei Monate später sitzt der Essener Polizeipräsident Frank Richter in einer Pressekonferenz. Auch er spricht über Rassismus – in einem jüngeren Fall. „Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, was in meiner Behörde passiert ist“, sagt Richter und meint die kürzlich bekannt gewordenen Chatgruppen, in denen 29 Beamte der Essener Polizei rechtsextremes Material getauscht haben sollen. Innenminister Herbert Reul zeigte sich entsetzt, die Verdächtigen wurden suspendiert und Richter fragte sich öffentlich, ob es nicht früher Hinweise auf rechte Tendenzen unter den Uniformierten hätte geben müssen. Die Antwort lieferte er gleich mit: „All das lag nicht vor in den letzten Jahren.“

Eine erstaunliche Aussage. Der Fall des erschossenen Adel B. hatte in Essen längst eine Diskussion über Themen wie Racial Profiling und unverhältnismäßige Polizeigewalt entfacht. Was geschah, „ist kein Einzelfall“, resümierten die Soziologen Jan Wehrheim, Lena Wiese und Moritz Rinn der Universität Duisburg-Essen in der Zeitschrift Suburban. Es gebe einen „Zusammenhang von Rassismus (…), selektiven Polizeipraktiken und Polizeigewalt“.

Keiner der Beteiligten war Mitglied in den jetzt ausgehobenen Chatgruppen, teilt die Pressestelle der Polizei mit. Verfahren gegen die Beamten, die am tödlichen Einsatz beteiligt waren, wurden eingestellt.

Machen sich Täter selbst zum Opfer?

Schaut man nur ein wenig weiter zurück, finden sich weitere Fälle: Anfang März 2020 wollte die Mülheimerin Loveth Agbonlahor gemeinsam mit ihren zwei Töchtern in einer Essener Polizeiwache den Diebstahl ihres Portemonnaies anzeigen. Die erste Frage der Polizisten an die schwarze Frau soll gewesen sein: „Wurden sie bestohlen oder haben sie gestohlen?“ Dann kam es zu einem Tumult, Agbonlahor und ihrer Familie wurde mehrfach ins Gesicht geschlagen. Schließlich knieten mehrere Polizisten auf ihr, die 50-Jährige rief: „Ich kann nicht atmen!“ Das war noch vor dem Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der infolge einer gewaltsamen Festnahme durch weiße Polizisten getötet wurde.

„Die Polizei hat immer gesagt, es seien nur Einzelfälle, aber rassistische Handlungsweisen werden ja nicht mal im Einzelfall aufgeklärt“, sagt Anabel Jujol im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Sie engagiert sich beim Antirassismustelefon, einer gemeinnützigen Einrichtung in Essen. Nach dem Vorfall auf der Wache hatte sie mit Polizeipräsident Richter über mutmaßlich rassistische Polizeigewalt gesprochen. „Wir sind nicht nur auf vehemente Ablehnung gestoßen, es wurde einfach das Gegenteil behauptet“, resümiert sie. Tatsächlich verteidigte Richter seine Beamten in der Lokalzeitung WAZ mit den Worten: „Betroffene polizeilicher Maßnahmen wollen hier sehr häufig (…) vom eigenen Fehlverhalten ablenken. So macht sich der Täter zum Opfer.“

Ende April 2020: Omar Ayoub und seine Familie feierten Fastenbrechen, bis die Polizei wegen einer Ruhestörung klingelte. Zwei Beamte wollten das Haus betreten. Als Ayoub die Tür mit Verweis auf einen fehlenden Durchsuchungsbeschluss schließen wollte, hätten sie sich gewaltsam Zutritt verschafft, erzählt er. In einem Instagram-Post dokumentierte der 23-Jährige später die behaupteten Folgen des Einsatzes: Seine Hand war gebrochen, Rücken und Arme mit Schürfwunden und Hämatomen übersät. Die Polizisten hätten seine schwangere Frau geschubst.

Im Gespräch mit ZEIT ONLINE berichtet Ayoub, dass die Beamten ihn und seine Familie auch rassistisch beleidigt hätten: „Dreckslibanesen“, „ehrenloser Kanacke“, „geht dahin zurück, wo ihr herkommt, ihr Tiere“, sollen sie gesagt haben. „Solche Leute gehören nicht in die Polizei“, sagt Ayoub und fordert bis heute, dass die Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden. Doch zunächst muss er sich selbst verantworten: Gegen ihn läuft eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Keine neue Prüfung

Ebenfalls um Ruhestörung ging es ursprünglich im April 2017, als der eritreische Flüchtling Mikael Haile in seiner Wohnung von Essener Polizisten erschossen wurde. Die Erklärung der Polizei erinnert an den Fall Adel B.: Haile sei mit einem Messer auf die Beamten zugestürmt. Den tödlichen Schuss ins Herz erkannte die Staatsanwaltschaft als Notwehr.

Mindestens ein Bild aus den Chatgruppen thematisiert auf verächtliche Weise auch die Erschießung eines schwarzen Menschen. Die Polizei sieht dennoch keinen Anlass, die Vorfälle im Lichte der neuen Erkenntnisse abermals zu prüfen. „Jeder Fall, in dem solche Vorwürfe geäußert wurden, wird/wurde aufgrund von Neutralität von einer anderen Behörde und der zuständigen Staatsanwaltschaft bereits geprüft“, teilt die Pressestelle mit. Anabel Jujol vom Antirassismustelefon erkennt in den oft ähnlichen Erzählungen von Betroffenen ein ritualisiertes rassistisches Verhalten. „Dass erst eine offen neonazistische Chatgruppe aufliegen muss, ist für Betroffene von rassistischer Polizeigewalt, die seit Monaten auf Probleme hinweisen, demütigend.“

Polizeipräsident Richter mochte dennoch kein flächendeckendes Problem erkennen. Im Gegenteil: Schon im Juni hatte er den Beamten per Interview eine Art Absolution erteilt – und das nicht nur für seine eigene Behörde: „In der deutschen Polizei existiert so etwas wie systemischer Rassismus nicht.“