20 Jahre nach dem rechtsextremen Brandanschlag bemüht sich Solingen um ein besseres Miteinander. Einige setzen sich für einen Austausch zwischen Türken und Deutschen ein. Andere wollen nichts mehr wissen von den alten Geschichten.
Von Tagesspiegel-Autorin Katrin Schulze
Übrig geblieben sind nur ein paar Stufen, die einmal in den Keller führten. Heute enden sie im Nichts, liegen einfach so da in einem wilden Garten mit fünf Kastanien. Ein Baum für jedes Opfer. Zwei Frauen und drei Mädchen starben hier, als ihr Haus, in dem sie sich sicher wähnten, brannte. Gebaut wurde danach nie wieder an dieser Stelle. Und so ist auf Fotos, die an der Unteren Wernerstraße aufgenommen werden, seit langem nur der grüne, wilde Garten zwischen zwei Häusern zu sehen. Eine Lücke in Solingen.
20 Jahre ist die Katastrophe nun her
Die Bilder sind geblieben. Auch Gerd Uhrig wird sie nicht mehr los. Er war damals Polizeichef und als einer der Ersten an der Unteren Wernerstraße 81, am Tatort. „Ich habe lange daran zu knabbern gehabt und versuche, dieses Thema zu vermeiden“, sagt Uhrig. Im Ruhestand möchte er nicht mehr mit „unschönen Erinnerungen“ konfrontiert werden. Erinnerungen daran, wie in den Morgenstunden des 29. Mai 1993 das Haus einer türkischstämmigen Familie brannte, weil junge Rechtsextreme es angezündet hatten. Daran, dass Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genç in den Flammen verbrannten oder im Rauch erstickten. Daran, dass Gürsün Ince beim Sprung aus dem Fenster starb. Und daran, wie sich acht Menschen nur schwer verletzt retten konnten.
Seither steht die Stadt Solingen in Nordrhein-Westfalen sinnbildlich für fremdenfeindlichen Mord in Deutschland – und dafür, dass Rechtsextremismus in den 1990ern nicht nur eine üble Nachwehe des DDR-Sozialismus war. Der Anschlag von damals sei ein dunkler Punkt in der Geschichte der Stadt, sagt Solingens Oberbürgermeister Norbert Feith (CDU). Ihr beherrschendes Kennzeichen sei er aber nicht. Feith kämpft für eine „vielfältige und tolerante Gesellschaft“. Ein Drittel der Solinger sind Migranten.
Mevlüde Genç, 70, gehört dazu. Sie ist in der Stadt geblieben, obwohl sie hier zwei Töchter, zwei Enkel und ihre Nichte verloren hat. „Als Mutter macht es für mich keinen Unterschied, ob fünf, zehn oder zwanzig Jahre vergangen sind“, sagt sie in einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur. „Für mich ist der Schmerz jeden Tag der gleiche.“ Die Zeit heilt alle Wunden? Mevlüde Genç kann an diesen Satz nicht glauben.
Andere Solinger haben langsam genug von den alten Geschichten. So jedenfalls hat es Frank Knoche beobachtet, der für die Grünen im Stadtrat sitzt und mit seinem Netzwerk „Solinger Appell“ viele Gedenkveranstaltungen organisiert hat. „Die Mehrheit der Bevölkerung meint, es müsse doch mal Schluss sein“, sagt Knoche. Diese Leute wollten nicht jedes Jahr aufs Neue an die grausige Tat erinnert werden. Teilweise schreiben sie auch im Internet, was sie davon halten, dass sich immer noch so viele für den Brand und seine Folgen interessieren. Wie die Stadt und die Opfer damit umgehen. „Es NERVT einfach nur !!!!!! Ich kann es nicht mehr hören oder sehen“, kommentiert einer unter einem Onlineartikel der örtlichen Zeitung. Ein anderer schreibt: „Ich frage mich heute wieder, und das seit 20 Jahren: Wo waren die männlichen Bewohner des Hauses in der Tatnacht? Kurze Zeit später wurde auch wieder geheiratet. Da kann die Trauer auch nicht groß sein.“ Immerhin ist in einem Leserbeitrag von „Respekt“ die Rede.
Die Täter sind mittlerweile wieder frei
Respekt vor Mevlüde Genç, die sich trotz ihrer Trauer immer für ein besseres Zusammenleben zwischen Türken und Deutschen eingesetzt hat, wofür sie unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. Dass es mit dem Zusammenleben besser klappt, daran hat Frank Knoche seine Zweifel. „An den Stammtischen reden sie heute nicht vom Brandanschlag, sondern vom Türkenaufstand danach“, sagt er. Zwar demonstrierten einerseits am vergangenen Sonnabend in Solingen wieder 2000 Menschen gegen Fremdenhass, doch andererseits gibt es da auch diese Gerüchte.
Sie handeln davon, dass es der Familie Genç angeblich besonders gut gehe, dass sie im Supermarkt ihre Einkäufe nicht bezahlen müsse und drei Häuser besitze. In Wahrheit leben die Gençs nicht gerade luxuriös. Am Rande der Innenstadt bewohnen sie ein Haus, das von Versicherungs- und Spendengeldern bezahlt wurde und, weil auch die Angst geblieben ist, von Kameras überwacht wird.
Die vier Täter vom 29. Mai 1993 sind nach langen Jugendstrafen wieder frei. Nie hätten sie versucht, Kontakt zur Familie ihrer Opfer aufzunehmen, sagt Mevlüde Genç und wird dann grundsätzlich. Deutsche und Türken hätten nicht gelernt, ihre jeweiligen Probleme zu verstehen. Neonazis mordeten schließlich auch nach 1993 in Deutschland.
In Solingen gibt es laut Oberbürgermeister Norbert Feith und den „vorliegenden polizeilichen Erkenntnissen keinen erkennbaren Rechtsextremismus“. Sein Vorgänger Gerd Kaimer, der 1993 das Amt innehatte, möchte keine Interviews geben. Gerd Uhrig, der damalige Polizeichef, will auch nicht darüber reden, wie er die Stimmung in der Umgebung heute wahrnimmt. Traurig stimmt ihn jedoch, dass nie jemand gefragt habe, ob er Hilfe benötige, psychologisch vielleicht.
Mevlüde Genç kommt manchmal mit ihrem Mann Durmus zu dem wilden Garten mit den fünf Kastanienbäumen – zuletzt für eine Dokumentation des WDR. Sie möchte sich daran erinnern, wie es hier einmal war. Bevor die Lücke in Solingen klaffte.