In Deutschland werden in der Regel rechtsextremistische Erscheinungen unter dem Etikett des „Nationalsozialismus“ verbucht. Rechtsextremisten – das müssen ewig gestrige Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer politischen Führungsfigur Adolf Hitler sein. In der besonderen Verantwortung Deutschlands für die Auseinandersetzung mit dem historischen Nationalsozialismus steckt jedoch nicht nur die Chance einer angemessenen Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte, sondern nicht weniger die Gefahr einer Verkennung rechtsextremistischer Phänomene der Gegenwart.
Gibt es einen „linken Nationalsozialismus“?
Die Verkürzung des Phänomens „Rechtsextremismus“ auf den historischen Nationalsozialismus kann dem Problem jedoch nicht gerecht werden. Deutlich wird dies, wenn man sich Debatten innerhalb der rechten Szene näher
Norddeutschland aktive Neonazi, Christian Worch, im Internet einen umfangreichen Briefwechsel aus dem Jahr 1998, in dem Worch auch auf die Frage zu sprechen kam, ob und inwiefern er sich selbst als Nationalsozialist sehe und bezeichne: „Es gibt sowohl juristische als auch politische Gründe, die es mir nahelegen, mich heutzutage im Gegensatz zu jüngeren Jahren nicht mehr als ‘Nationalsozialist‘ zu bezeichnen […]. Solange ich mich selbst aber noch als Nationalsozialist bezeichnet habe, habe ich immer Wert darauf gelegt, dies im Sinne des vormals ‘linken‘ Flügels des Nationalsozialismus verstanden zu wissen, also im Sinne der Röhm, Strasser (Otto und Gregor) oder auch des frühen Dr. Goebbels, bevor Hitler ihn auf die Seite des ansieht. So veröffentlichten bspw. der Nationalanarchist Peter Töpfer sowie der in ganz ‘rechten‘ Flügels zog.“ (Worch 1998, Brief vom 10.12.1998) Worch bestimmte damit seinen Standpunkt als Nationalsozialist geradezu in Abgrenzung zu Hitler. Die vorrangige Sympathie der rechten Szene mit dem „linken“ Flügel des Nationalsozialismus belegt auch der Neonazi-Aussteiger Hasselbach (Hasselbach 2001: 58).
Intellektuell anspruchsvollere Kreise der rechten Szene reflektieren ihren ideologischen Standpunkt damit differenzierter, als es viele Kritiker gerne wahrhaben möchten. In der rechten Szene herrschte nicht nur bereits im Vorfeld des Nationalsozialismus eine rege Debatte über die angemessene Weise rechten Denkens, sondern diese Diskussion setzte sich auch während der Zeit des Nationalsozialismus fort und dauert bis heute an.
Die Schwarze Front
Die zentrale ideologische Auseinandersetzung innerhalb des historischen Nationalsozialismus verlief in der Tat zwischen den von Christian Worch beschriebenen Flügeln. Sie wurde spätestens entschieden, als Ernst Röhm, Chef der SA, und Gregor Strasser im Jahre 1934 in der „Nacht der langen Messer“ vom Hitler-Flügel ermordet wurden. Noch heute bilden jedoch für wesentliche Teile der rechten Szene Röhm und die Gebrüder Strasser, hierunter insbesondere Dr. Otto Strasser, einen entscheidenden Bezugspunkt für das eigene Denken. Dieser so genannte „linke Flügel des Nationalsozialismus“ war innerhalb der NSDAP insbesondere im norddeutschen Raum organisiert und bezeichnete sich selbst als „Schwarze Front“.
Während Gregor Strasser und Ernst Röhm der Bewegung trotz ihrer ideologischen Niederlage verhaftet blieben, kehrte Dr. Otto Strasser der NSDAP bereits im Jahre 1930 mit der Erklärung „Die Sozialisten verlassen die NSDAP“ gemeinsam mit einer Reihe weiterer Anhänger der „Schwarzen Front“ den Rücken. Strasser, ehemals Sozialdemokrat, machte dabei auf drei Ebenen fundamentale theoretische Differenzen zur Linie Hitler-Goebbels auf:
1. lehnte er den imperalistischen Charakter des Hitlerismus ab. Für einen Nationalisten stelle das Nationalitätsprinzip den obersten politischen Wert dar. Für Strasser folgte hieraus jedoch logisch zwingend, „daß das Recht der Erfüllung völkischer Eigenart, das wir für uns in Anspruch nehmen, auch allen anderen Völkern und Nationen zusteht“ (Strasser 2000: 113).
2. stellte sich Strasser gegen den Plan zur Errichtung eines faschistischen Obrigkeitsstaates und forderte stattdessen „einen organischen Ständestaat germanischen Demokratie“ (ebd.: 114) und
3. machte er Hitler die Vernachlässigung der „sozialen Frage“ in der nationalsozialistischen Bewegung zum Vorwurf.
Von der schwarzen Front zum Ethnopluralismus
Diese Kritik Strassers nahmen zahlreiche deutsche Rechtsextremisten nach dem Zweiten Weltkrieg auf und machten sie zum Fundament ihres „nationalsozialistischen“ Weltbildes. Noch heute kann man beim Parteiverlag der NPD Bücher über die „Schwarze Front“ und die Gebrüder
Strasser kaufen.
Theoretisch ergänzt wird diese programmatische Verschiebung weg von Hitler seit Ende der 1960er Jahre durch den Kopf der französischen „Neuen Rechten“, Alain de Benoist, dessen Einfluss auch auf die deutsche rechtsextreme Szene inzwischen deutlich größer sein dürfte als der Strassers. Für die NPD bestätigt der ehemalige Bundesvorsitzende der Jungen Nationaldemokraten (JN) und heutige Vorsitzende der NPD-Landtagsfraktion Sachsen, Holger Apfel, dass sich die Theorien der „Neuen Rechten“ bereits Anfang der 1980er Jahre innerhalb der NPD durchzusetzen begannen: „Das Germersheimer Manifest [beschlossen auf dem NPD-Bundesparteitag 1982 in Germersheim, M.B.] baute auf der jahrelangen Vorarbeit junger Nationaldemokraten auf, in deren Dokumenten der Denkansätze der Neuen Rechten längst
Einzug gehalten hatten.“ (Apfel 1999: 48)
Alain de Benoist vertritt dabei eine rechte Ideologie, die mit der Otto Strassers vereinbar ist und sie an zentralen Stellen erweitert. Gemeinsamer Nenner beider Richtungen ist jedoch die ablehnende Haltung gegenüber der Hitlerschen Variante des Nationalsozialismus, insbesondere ihres imperialistischen Kerns. In Deutschland wurde die ethnopluralistische Ideologie viele Jahre zudem durch Henning Eichberg verbreitet.
Hierfür hat sich nicht nur in der NPD nunmehr die Bezeichnung „Ethnopluralismus“ durchgesetzt, womit eine Position gemeint ist, die sich im Bereich der Außenpolitik für eine Achtung der „Vielfalt der Völker“ ausspricht. Rassistisch bleibt diese Position dennoch, da sie zwar nicht mehr dafür plädiert, andere Völker mittels kriegerischer Mittel zu unterwerfen und ggf. zu vernichten, wohl aber dafür, die eigenen Nationen ethnokulturell zu säubern. Denn die Vielfalt der Völker könne – so die NPD – eben nur durch die Wahrung der kulturellen Identität aller Völker gewahrt werden. Und dies sei nur möglich, wenn multikulturelle Einflüsse unterbunden und „Ausländer“ als Träger „fremder Kulturen“ aus dem Hoheitsgebiet der Völker entfernt werden.
Und dennoch: Diese neue, modernisierte Variante rechten Denkens lässt sich widerspruchsfrei als „nationalsozialistisch“ bezeichnen, obwohl sie in zentralen Punkten mit Hitler bricht. Wo „Nationalsozialismus“ drauf steht, muss also nicht immer „Hitlerismus“ drin sein.
Literatur:
Apfel, Holger (Hrsg.) (1999): Alles Große steht im Sturm, Stuttgart
Hasselbach, Ingo/Bonengel, Winfried (2001): Die Abrechnung, Berlin
Strasser, Otto (2000): „Die Sozialisten verlassen die NSDAP“, in: Kühnl (Hrsg.): Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln, S. 113-118
Worch, Christian (1998-2000): Briefwechsel mit Peter Töpfer, in: http://www.nationale-anarchie.de
Dieser Artikel basiert auf Brodkorb, Mathias (2003): Metamorphosen von Rechts, Dampfboot-Verlag, Münster.
weitere Informationen: www.endstation-rechts.de