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Ausgeschlagene Zähne, Gehirnerschütterungen, innere Blutungen

 

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Sequenz vom Beginn des Angriffs in der Saalstraße – 100 Neonazis ohne Polizei

Nach dem lebensgefährlicher Naziübergriff am 1. Mai in Saalfeld dokumentieren wir den offenen Brief eines Augenzeugen.

Rechtsextreme Gewalttat und Polizeiversagen in Saalfeld

Offener Brief Matthias Quent Jena, 03.05.15

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Engagierte,

01. Mai 2015 in Thüringen: Im Bundesland, in dem der NSU entstanden ist, demonstrieren unterschiedliche rechtsextreme Organisationen in mehreren Städten. In die bundesweiten Schlagzeilen gerät ein Angriff von Neonazis auf eine Gewerkschaftskundgebung in Weimar. Etwa um 11 Uhr werden dort vier Menschen verletzt. Das ist schlimm. Medial ist es ein Eigentor für die Nazibewegung. Presse ist vor Ort und der Aufschrei erwartbar, zumal mit dem Weimarer Oberbürgermeister Herrn Wolf und dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Herrn Schneider bekannte Persönlichkeiten zum Opfer der Nazis wurden. Der Angriff in Weimar war kaum vorhersehbar, obwohl er anscheinend durch die Rechtsextremen geplant war. In fast jedem Ort finden am 1. Mai gewerkschaftliche Veranstaltungen statt; alle gegen mögliche Spontanangriffe von Nazis polizeilich abzuschirmen, ist für die Demokratie nicht zu wünschen und wohl nicht möglich. Die politischen Kommentare und die parteiübergreifende, wiederholte Forderung eines NPD- Verbotes in der Debatte zeigt vor allem eine anhaltende Hilflosigkeit im Umgang mit dem Rechtsextremismus. Erfreulich ist, dass die Polizei in Weimar die Täter wenig später festnehmen konnte und die körperlichen Verletzungen der Betroffenen dem Vernehmen nach nur leicht sind. In Saalfeld wurden fast zeitgleich drei junge Menschen bei einem Naziangriff zum Teil schwer verletzt – ausgeschlagene Zähne, Gehirnerschütterungen, innere Blutungen und Krankenhausaufenthalte zeugen von der enormen Brutalität. Ein Betroffener wird im Laufe der Woche erneut operiert werden müssen. Ich war zufällig Zeuge dieses Angriffes und möchte Ihnen meine Beobachtungen aus Saalfeld schildern und um Ihre Solidarität bitten!

Ich war als Beobachter in Saalfeld, um mir selbst ein Bild von dem rechtsextremen Aufzug des „Dritten Wegs“ zu machen – jener in Bayern entstandenen Partei, die seit Neustem versucht, auch in Ostthüringen Fuß zu fassen. In Jena, Kahla und Saalfeld traten sie in den letzten Wochen in Erscheinung, also in jenen Städten, in denen die NPD schwach und die bewegungsförmig organisierten Rechtsextremisten des sogenannten „Freien Netzes“ vergleichsweise stark präsent sind. Der „Dritte Weg“ entstand als Reaktion der rechtsextremen Bewegung auf das Verbot des „Freien Netzes Süd“ in Bayern. In Thüringen rechnen die „Freien Netze“ spätestens seit der Regierungsübernahme von Rot-Rot-Grün damit, verboten zu werden und suchen daher nach neuen Organisationsformen. Als Soziologe forsche ich an der Universität Jena zu Rechtsextremismus; dabei ist es mir wichtig zu sehen, was ‚auf der Straße‘ passiert: Was fordern die Rechten? Wie präsentieren sie sich? Wie interagiert sie mit Polizei und politischen Gegnern? Wie reagieren Passanten, Anwohner, Gegendemonstranten? Vor einigen Wochen habe ich zum Beispiel für die Tagesschau den Auftritt von Geert Wilders bei PEGIDA in Dresden beobachtet und kommentiert.

Nun also Saalfeld. Mit dem Fahrrad und einer kleinen Digitalkamera unterwegs betrachtete ich den Aufzug der Rechtsextremen. Die Polizei hatte materialstark aufgefahren, um die Aufzugsstrecke der Neonazis mit Gittern abzuschirmen. Am Auftaktplatz der Rechtsextremen konnte ich zusehen, wie diese ankamen, aufbauten, sich einstimmten und ihre Kundgebung begannen. Einige Reden habe ich aufgezeichnet, um diese später ggf. näher inhaltlich analysieren zu können. Ein „freier Nationalist aus Thüringen“ sprach davon, dass in Saalfeld nun das „Gespenst des Nationalsozialismus“ umgehe. Pro- Flüchtlingsinitiativen seien „anti-weiß“ motiviert. Und vieles anders. Dem Zeitstempel meiner Kamera nach um 12:41 Uhr sagte ein Redner auf der „Dritten Weg“-Kundgebung durch das Mikrofon, dass „eine weitere größere Gruppe von national gesinnten Menschen sich am Bahnhof eingefunden hat, auch im dreistelligen Bereich, auf die werden wir dann auch warten“. Die Durchsage war auch von den anwesenden Polizisten klar und deutlich zu verstehen. Ich machte mich daraufhin mit dem Fahrrad auf den Weg in die Stadt.

Dem Zeitstempel meiner Kamera zufolge traf ich die auf der Kundgebung angekündigte Gruppe Rechtsextremer um 12:50 Uhr am „Saaletor“, an dem sich die Bahnhofsstraße in die Puschkinstraße und in die Saalstraße teilt. Ich schätzte die Gruppe aus der Ferne auf 100 bis 150 Personen. Zunächst irritierte mich, dass ein Großteil der Gruppe schwarz-weiß-rote Mützen trug. Fast alle waren schwarz gekleidet und trugen Sonnenbrillen. Am meisten verunsicherte mich jedoch, dass weit und breit kein einziger Polizist zu sehen war. Der Bahnhof war natürlich von Polizisten gesichert. Von dort aus mussten die angekommenen Teilnehmer der rechtsextremen Kundgebung zu ihrem Auftaktort gelangen – der kürzeste Weg dorthin führt durch die Innenstadt und über den Markt, wo zu dieser Zeit Familienfeste, eine Meile der Demokratie und andere „Bunt statt braun“-Versammlungen stattfanden. Zudem gab es nach Internetmeldungen bereits mehrere Blockaden von Nazigegnern. Ich habe bereits viele Demonstrationen beobachtet, aber noch nie erlebt, dass eine große Gruppe von Rechtsextremen ohne jegliche Polizeibegleitung auf einen solchen Weg gelassen wurde. Bitte schauen Sie sich das kurze Video an. Können Sie sich vorstellen, dass so etwas bspw. in Weimar oder in Erfurt zugelassen wird?

Auf der Saalstraße – keine hundert Meter vor dem ersten Stand der GRÜNEN – stießen die Rechtsextremen auf eine kleine Gruppe von sechs jugendlichen Punkerinnen und Punkern, die meine Warnung vor den Rechtsextremen entweder zu spät oder nicht hörten: Sie liefen ihnen ungeschützt in die Arme. Erst haben einzelne Nazis, dann ein kaum auseinanderzuhaltender Pulk von Nazis auf die Jugendlichen eingeschlagen und eingetreten. Den Beginn der Auseinandersetzung habe ich gefilmt und es ist deutlich zu sehen, dass die Rechtsextremen auf ihre Opfer einschlugen, ohne dass von diesen provokatives Verhalten ausging. Um Hilfe zu holen, bin ich vor den aufrückenden Rechtsextremen auf dem Rad die Saalstraße nach oben gefahren, habe unterwegs nach Hilfe telefoniert und die in der Höhe der Straße „Gerbergasse“ stehenden zwei Streifenpolizisten in Kenntnis gesetzt. An meinem Handgelenk baumelte die Kamera weiter im Aufnahmemodus und dokumentiert den Ton. Obwohl die Polizisten sehen konnten, was sich unten abspielte, haben sie nicht eingegriffen. Über Funk gaben sie weiter, was passierte und kritisierten meine „Unruhe“. Das Video, das ich in vollem Umfang der Opferberatung ezra zur Verfügung gestellt habe, dokumentiert das Nichteingreifen der Beamten. Ich drehte mit meinem Rad wieder um und rollte zum Ort des Geschehens. In dem Moment war ich überzeugt: Die Nazis schlagen die Jugendlichen tot. Um diese war nur ein schwarzer Pulk zu sehen. In dem Moment fuhr endlich ein blauer Kleinbus der Polizei vor. Offenbar durch dessen Anwesenheit entfernte sich die Nazimeute gemächlich in Richtung Puschkinstraße. Der Fahrer des Wagens war jedoch hilflos, wie er mir gegenüber einräumte: „Was soll ich machen, ich bin allein!“ Immerhin genügte offenbar seine bloße Anwesenheit, um (noch) Schlimmeres zu verhindern. Augenscheinlich hatten die Rechtsextremen nur die männlichen Punks attackiert – diese bluteten stark an den Köpfen, bei einem lief Blut aus dem Mund. Sie und ihre Begleiterinnen standen völlig neben sich, waren schockiert und kaum in der Lage zu sprechen. Ein Polizist fragte: „Soll ich einen Krankenwagen rufen oder geht es?“ Ich informierte Anwesende darüber, dass ich Teile des Angriffs gefilmt habe. Ich informierte die Opferberatung ezra, die wenig später vor Ort war, und die Opfer noch am Tatort psychologisch betreuen konnte.

Beamte der BFE Thüringen führten die Nazigruppe schließlich weg- und einen Nebenweg der Saale entlang. Am Ort des Angriffs waren nun auch Bürger anwesend, die sich um die Gewaltopfer kümmerten, darunter Stephanie Erben von den GRÜNEN. Ich begleitete – in sicherer Entfernung – die Tätergruppe der Rechtsextremen, die von der Polizei nun unterhalb des Alten Schlosses gesichert und abgedrängt wurde. Obwohl die Beamten zahlenmäßig weit unterlegen und nicht nur mit den Nazis, sondern auch mit einigen aggressiven Gegendemonstranten fertig werden mussten, haben sie an dieser Stelle – dies war mein Eindruck, auch wenn ich von ihnen geschubst wurde – einen richtig guten Job gemacht und die Lager ohne überzogenen Gewalteinsatz deeskalierend getrennt. Vereinzelt flogen Steine aus beiden Richtungen, Nazis und Gegner provozierten sich gegenseitig, bei den Nazis vermummten sich einige. Die bunten Mützen waren verschwunden und gegen Kapuzen getauscht. Einige wechselten die Kleidung, offenbar um nicht erkannt werden zu können. Es kamen weitere Gegendemonstranten, Polizeieinheiten, Parlamentarier und Pressevertreter dazu, und die Lage beruhigte sich.

Die wackligen Aufnahmen meiner Kamera belegen, dass die Polizei die rechtsextreme Tätergruppe isoliert hatte. Ich hatte in Erinnerung, dass in Frankfurt vor einiger Zeit hunderte linke Demonstranten stundenlang in einem „Kessel“ der Polizei festgehalten und kontrolliert wurden, weil sich einige davon vermummt hatten. Die Polizei führte die Nazigruppe aus dem Sichtfeld der Gegendemonstranten. Ich ging fest davon aus, dass dies geschah, um die Situation zu beruhigen und die Gewalttäter zu identifizieren. Doch nach meinem Kenntnisstand wurden keine Personalien oder ähnliches festgestellt. Nicht vorstellbar ist für mich, dass die Thüringer Polizei im Bundesland des NSU eine straffällig gewordene Nazigruppe ohne jede Konsequenzen zu deren Kundgebungsplatz eskortiert. Ich kann nicht einschätzen, ob das Strafvereitelung im Amt ist. Ganz sicher aber ist es ein Schlag ins Gesicht der Gewaltopfer.

In der Presse und öffentlichen Skandalisierung wird zu Recht der Angriff in Weimar thematisiert. Außer in der Wiedergabe von ezra-Berichten findet sich allerdings nichts zu dem schlimmen Angriff von Saalfeld. Mich empört die Ungleichbehandlung von Opfern rechter Gewalt. Ich gehe nicht davon aus, dass die Gewaltopfer von Weimar dafür etwas können, aber ich vermute, dass offenbar die Saalfelder Polizeiführung versucht, ihr Versagen zu verschleiern. Der brutale Überfall hätte verhindert werden können. In den Meldungen der Polizei tauchen die Schwerverletzten bisher nicht auf. Anders als in Weimar wären die schweren Verletzungen in Saalfeld zu verhindern gewesen, wenn die Nazigruppe, deren Anwesenheit bekannt war, von der Polizei ab dem Saalfelder Bahnhof zum Kundgebungsort begleitet worden wäre. In Weimar, wo die Polizei NICHT auf den Angriff vorbereitet sein konnte, wurden die Täter festgenommen. In Saalfeld, wo Polizei aus mehreren Bundesländern sogar mit Wasserwerfern anwesend war und die Gewalttäter auch zunächst festgesetzt wurden, wurden diese wieder gehen gelassen. Zynisch ist, dass der Saalfelder Polizeichef Dirk Löther-Straße in der OTZ behauptet, „die Polizei [habe] unter dem Strich auf dem Markt ein friedliches Fest gewährleisten und überwiegend das Versammlungsrecht der Demonstranten durchsetzen“1 können. Es ist lediglich Zufall und Glück, dass das Video den brutalen Angriff dokumentieren und belegen kann. Ich hoffe, die Landesregierung wird den Sachverhalt prüfen und Konsequenzen folgen lassen. Das Mindeste, finde ich, wäre eine öffentliche Richtigstellung und Entschuldigung des oder der Zuständigen in Saalfeld, die am 1. Mai zwischen 12:30 Uhr und 14:00 Uhr mindestens zweimal eklatant versagt haben.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich appelliere an Sie, weil Sie als Politiker, Medienvertreter, Engagierte etwas tun können. Ich appelliere an die, die Sie als Betroffene von rechter Gewalt am 1. Mai in Thüringen mit den Betroffenen in Saalfeld verbunden sind – egal ob als Punks, Bürgermeister und Bundestagsabgeordnete: Sie wurden in Thüringen unschuldig zum Opfer rechter Gewalt. Bitte solidarisieren Sie sich mit den Opfern der rechten Gewalt in Saalfeld und setzen Sie sich öffentlich dafür ein, dass die Täter und Verantwortlichen ermittelt werden und dieses Behördenversagen im Kleinen im Land des großen Behördenversagens im NSU-Komplex nicht in der Versenkung verschwindet. Die Betroffenen rechter Gewalt aus Saalefeld sollten ebenso wie die Betroffenen aus Weimar öffentlich wahrgenommen werden. Werden sie vergessen, würde das für sie eine erneute Schädigung bedeuten und das Vertrauen in den demokratischen Alltagsvollzug und die Polizei zerstören, welches der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss und die vielen Engagierten in Thüringen in den vergangenen drei Jahren wieder langsam versuchen aufzubauen.

Matthias Quent

Betroffene und Zeugen der Übergriffe am 1. Mai in Saalfeld werden gebeten, sich bei der Opferberatung ezra (www.ezra.de), beim Haskala (www.haskala.de) oder beim lokalen Bündnis “Zivilcourage und Menschenrechte” im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt (www.zumsaru.de) zu melden.