Als ich im vergangenen Herbst die täglichen Bilder im Fernsehen von ankommenden Flüchtlingen in Deutschland sehe: überfüllte Züge, erschöpfte Menschen – die meisten aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht -, Winken in die Kameras, hektisch umher eilende Helfer, Polizei, technisches Hilfswerk, Freiwillige, Notunterkünfte, Sammelstellen für alles mögliche: Kleidung, Spielzeug, Essen, etc., als ich die Worte höre: Willkommenskultur, Spendenaufruf, Chaos bis hin zu den mittlerweile meist zitierten – ja fast magisch anmutenden – drei Wörtern: „Wir schaffen das“, bin ich doch einigermaßen erstaunt, über den Unterton, der sich in die Berichterstattung eingeschlichen hat.
Von Martina Cassel, Universitäts-Professorin für Informatik
Die einzelnen Szenarien, die da über den Bildschirm flimmern, sollen suggerieren, dass wir vor nie dagewesenen Problemen stehen, so als sei das alles völliges Neuland. Untermauert wird dieses Gefühl mit Substantiven wie: Flut, Welle, Strömung, gefolgt von passenden Verben: überrollt, überschwemmt, hinweggefegt.
Warum ich erstaunt bin? Vielleicht weil mir die Bilder nicht neu sind? Im Gegenteil: die Fernsehbilder sind für mich ein „Déjà-vu“.
Herbst 1989 – Deutschland steht kurz vor der Wiedervereinigung. Tägliche Bilder von „Flüchtlings-Camps“: DDR-Bürger in West-Botschaften, an Grenzzäunen in Ungarn, Österreich, der Slowakei.
Einlaufende Züge mit tausenden erschöpften aber glücklich lächelnden Ex-DDR-Bürgern. Erstversorgung am Bahnhof: Kleider, Essen, Registrierung. Freiwillige Helfer, Notunterkünfte, Chaos, Spendenaufrufe, Hunderttausende auf der Flucht. Habe ich etwas vergessen?
Natürlich habe ich etwas vergessen: Die Flüchtlinge hiessen damals nicht „Flüchtlinge“, sondern DDR-Bürger, die Willkommenskultur bestand darin, dass die „Ausreisenden“ an jedem noch so kleinen Bahnhof in der Republik von hysterischen Massen mit Musik, Blumen, Sekt und Freudentränen empfangen wurden. Und es sollte noch schlimmer kommen. Der Tag, an dem es kein Halten mehr geben sollte, wird später dann sogar noch ein offizieller Feiertag in Deutschland werden. Und auch hier ist die Rede von „Welle“ und „Flut“ – doch wer möchte schon gerne der „Welle der Sympathie“ und der „Flut der Freude“ entrinnen. Eine Gesellschaft im kollektiven Freudentaumel. Es heisst, man habe die Freiheit erkämpft, dafür alles riskiert, alles zurückgelassen, man sei der Diktatur entflohen und man hoffe nun, willkommen zu sein. Und sie sind wollkommen – diese Flüchtlinge, …. pardon DDR-Bürger. Zu Beginn des Jahres 1989 leben in West Deutschland rund 60. Mill. Menschen und ziemlich überraschend stehen am Jahresende knapp 18 Mill. DDR-Bürger vor unseren Toren und fordern Einlass. Und keiner hat Angst! Jedenfalls sagt das keiner in dieser Zeit.
Im Gegenteil, wir überhäufen sie mit Geschenken, das Wort „Begrüssungsgeld“ findet Einlass im neuen Wortschatz der Republik, tausende von ihnen werden in Privathaushalten aufgenommen. Das Volk rückt zusammen. Der „Mainstream“ ist „ausser Rand und Band“ geraten – vor Freude. Es wird eine Zeit dauern, bis man wieder von Normalität reden kann. Aber heute – 26 Jahre später – ist es normal oder sagen wir fast.
Irgendwie völlig unnormal ist aber für mich das Verständnis, dass ausgerechnet die Menschen, die wir 1989 so herzlich willkommen geheissen haben, heute diejenigen sind – zumindest in Teilen – die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Lautstark demonstrieren, Flüchtlingsunterkünfte abfackeln und in Kameras brüllen, dass „sie“ das Volk seien. Nun, – vielleicht verstehe ich das so wenig, weil ich mich in erster Linie immer als „Mensch“ sehe und mit dem Begriff „Volk“ eher weniger anfangen kann. Was verständlich wird, wenn man das Wort einfach einmal googelt. Das Wort „Volk“ ist dermassen mehrdeutig, dass man bei genauem darüber Nachdenken, zu dem Schluss kommen könnte, dass der Ruf „Wir sind das Volk“ weniger Aussagekraft besitzt, als der Ausruf „Wir sind irre“ und dieser würde ja durchaus im Zusammenhang mit den Demonstrationen und dem des dort Geforderten Sinn machen.
1989 und die Folgejahre hat keine Regierung „das Volk“ gefragt, ob es denn mit der „Wiedervereinigung“ und den Folgen einverstanden war. Und es hat auch damals – sicher kaum zu glauben, aber andererseits auch dokumentiert – Menschen gegeben, die damit nicht einverstanden waren, wie die Wiedervereinigung abgelaufen ist. Die sich gar nicht „wiedervereinigen“ wollten. Ich zum Beispiel. Warum ich dagegen war? Es gab sicherlich einige Gründe, aber der Naheliegenste war wohl der, dass ich nicht mit etwas „wiedervereinigt“ werden wollte, mit dem ich gar nicht „entzweit“ worden war.
Ich wurde nach dem Mauerbau geboren und dahingehend sozialisiert, dass das „wahre Leben“ in Helmstedt endete. Alles was darüber hinausging, war „Osten“ und von daher konnte einfach nicht Gutes kommen. Kommunismus, Sozialismus, der Warschauer Pakt, der Russe, Sibirien, die Chinesen… und die DDR. In meiner Zeit auf dem Gymnasium in den siebziger Jahren führten wir endlos kontroverse Diskussionen im Deutsch- und Politikunterricht über die Frage, ob die jeweilige BRD Regierung nicht endlich die DDR offiziell als souveräner Staat anerkennen könne. Die konträren Meinungen richteten sich stark daran aus, ob Jemand „Verwandte und Bekannte“ in der Zone hatte oder nicht.
Ich gehörte zu letzterer Gruppe und argumentierte wortgewaltig und lautstark für die Anerkennung und mein Mitleid über „Mangelwirtschaft“ hielt sich stark in Grenzen. Ich hielt es mit dem Motto: „Was ich nicht kenne, kann ich auch nicht vermissen“. Wozu also „Care-Pakete“ mit „zweifelhaftem Inhalt“ wie Orangen, Bananen und Ananas nach Osten schicken. In den siebziger Jahren waren in der BRD Papayas mehr oder weniger völlig unbekannt. Keiner in Westdeutschland wäre auf die Idee gekommen, über eine Mangelwirtschaft zu klagen oder die Kirchengemeinden in Papua-Neuguinea anzuschreiben, man möge doch bitte Päckchen mit Papayas zu uns schicken.
So sah ich das damals als pubertierende Sechzehnjährige und …. ehrlich? …. viel hat sich bis heute nicht an dieser Sicht der Dinge geändert.
Und dann kam sie, die Wiedervereinigung. Und ich war – wie bereits erwähnt – nicht dafür. Genau wie heute, starrte ich fassungslos auf den Fernseher. Da „flüchteten“ sie zu Tausenden in die westdeutschen Botschaften und erpressten somit die westlichen Regierungen. Vor was genau flüchteten die Menschen damals eigentlich? Wer einfach dablieb in der DDR, musste ja nicht um sein Leben fürchten. Es gab keinen Krieg, keinen Terrorismus, keine Hungersnot und hatten die nicht „da drüben“ sogar
Vollbeschäftigung? Zumindest wurde uns – den Wessis – das dann später im wieder vorgehalten. Es gab also Arbeit für alle, zu essen für alle und Frieden für alle. Also warum dann fliehen? Richtig: „Freiheit“ gab es nicht – oder nicht so viel, wie sich der Einzelne das wünschte.
„Freiheit“ ist auch so ein, wie ich finde, völlig überstrapazierter Begriff. Ich tue etwas „für die Freiheit“, „im Namen der Freiheit“, „im Sinne der Freiheit“, usw. Wer ist schon wirklich „frei“ und wer „unfrei“? In der DDR hatten die Menschen nicht die Freiheit, sich einen BMW, einen Mercedes, ein schickes Einfamilienhaus oder einen Nerzmantel zu kaufen, etc.
Mein alter Deutschlehrer würde mir diesen Satz nicht durchgehen lassen. Denn indem ich das Wort „Möglichkeit“ durch das Wort „Freiheit“ ersetzt habe, habe ich aus „niederen Fluchtgründen“ (Wirtschaftsflucht) „hehre Gründe“ (Gefahr von Leib und Leben) gemacht.
Also liebe „Pegida Freunde“ wir haben euch damals auch aufgenommen – ihr mit euren
stinkenden „Trabbis“, euren überzogenen Erwartungen, eurem naiven Weltbild und euren grotesken Forderungen. Wir haben euer völlig marodes und bankrottes Land wiederaufgebaut, eure Altlasten entsorgt und euch die Hoffnung auf ein besseres Leben gegeben und was haben wir nach 27 Jahren dafür erhalten?
Den Mythos der ersten „friedlichen Revolution“ – kein Wort darüber, das es ohne Männer wie Gorbatschow, Reagan, Kohl und die vielen anderen Politiker gar nicht erst soweit gekommen wäre, dass euer Staat völlig bankrott war und die Russen sich ausser Stande sahen, das System weiter zu unterstützen, dass der Kommunismus oder Sozialismus einfach gescheitert war, – nein, die Wiedervereinigung schreibt ihr euch einzig und allein auf eure Fahne. Ihr beansprucht für euch, „mutig“ gewesen zu sein. Und was waren wir? Wir zahlen seit 27 Jahren für euren Mut und wir dürfen uns nicht einmal öffentlich darüber beklagen.
Wir dürfen uns heute nur schämen, wenn wir die Bilder von euren Demos gegen die Flüchtlinge im Fernsehen sehen. Die Flüchtlinge, die tatsächlich alles verloren haben, die vor Krieg, Hunger, Terror – dem sicheren Tod zu uns kommen und um Hilfe bitten, sind bei euch nicht willkommen.
Eigentlich ist es eine völlig groteske Situation, denn schliesslich müsstet ihr die Situation der Menschen in Idomeni oder in anderen Lagern doch sehr gut nachvollziehen können. Habt ihr uns nicht unermüdlich euer Leid geklagt, wie furchtbar das alles war, todesmutig über Mauern zu klettern, völlig verängstigt in den Botschaften auszuharren, in Zügen zusammen gepfercht zu sein und ins Ungewisse transportiert zu werden und wieviel Mut dazu gehörte.
Ihr habt euch zu Helden stilisiert und wir haben euch gewähren lassen. Und heute habt ihr – die Mutigen – Angst? Wie lachhaft ist das denn!
Wenn ich heute vor den Fernseher sitze und euch demonstrieren sehe – vor Selbstgerechtigkeit und Menschenverachtung triefend – schäme ich mich nur noch, für ein Land, auf das ich einmal stolz war und muss mir eingestehen, dass ich zu diesem „Volk“ eigentlich nicht mehr gehören möchte, denn „ich bin nicht das Volk“ – „ich bin ein Mensch“.