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Die verschleierten Rollstühle

 

Es ist ein Phänomen, das ich schon eine ganze Weile beobachte, und das mir jetzt beim Eurovision Song Contest wieder begegnet ist: Es scheint gerade en vogue zu sein, den eigenen Rollstuhl verschwinden zu lassen.

Ohne Rollstuhl in die Talkshow

Zum ersten Mal fiel mir dieses Phänomen bei rollstuhlfahrenden Paralympioniken auf, die ohne ihren Rollstuhl in Talkshows auftraten. Sie saßen auf einem Stuhl, teilweise sichtlich unbequem und gaben sich betont „nicht behindert“. Wer später einschaltete, wird sich gefragt haben, warum die Person von den Paralympics spricht. Das ist um so bedauerlicher, da die Medienpräsenz von sichtbar behinderten Menschen, die auch noch interessante Dinge zu sagen haben, sowieso verbesserungswürdig ist. Wenn sie sich in den Medien nicht als behindert zu erkennen geben, ist das jedes Mal auch eine verpasste Chance, das Bild von behinderten Menschen positiv zu verändern.

Viel Stoff und wenig Rollstuhl

Dann fiel mir auf Facebook auf, dass auf Familien- und Hochzeitsfotos plötzlich zunehmend die Rollstühle meiner Facebook-Freunde und deren Freunden verschwanden. Facebook-Bekanntschaften, die sonst 14 Stunden am Tag im Rollstuhl sitzen, saßen plötzlich künstlich auf Steinen oder Treppenstufen (ausgerechnet da!), oft die Beine übereinander geschlagen, denn dann fallen sie wenigstens nicht auseinander.

Auch Kleider mit viel Stoff bekam ich auf Facebook zu sehen, die den Rollstuhl fast gänzlich verdecken. Aber wie kann man denn so noch Rollstuhl fahren? Oder wurde das Kleid nur für den Fototermin so drapiert? Denn so viel Stoff bleibt ja gerne in den Rädern hängen. Und die Bildsprache des Fotos war zudem für mich sehr eindeutig: Da soll der Rollstuhl kaschiert werden.

Rollstühle sind jedenfalls keine unbequemen Dinger, aus denen man möglichst schnell wieder raus will. Ein gut angepasster Rollstuhl ist wie ein eigenes Körperteil. Wenn ich meine Hüfte beispielsweise nach rechts drehe, dreht sich auch mein Rollstuhl, ohne dass ich dafür die Hand an die Greifringe legen muss.

Verschleierter Rollstuhl

Und zu guter Letzt erinnerte mich die polnische Sängerin Monika Kuszyńska wieder an das Phänomen „verschleierter Rollstuhl“. Sie ist Rollstuhlfahrerin und tritt für ihr Land beim Eurovision Song Contest an. In ihrem Musikvideo sitzt sie auf dem Boden, die Beine komisch angeordnet. Erst in der letzten Sequenz des Videos sieht man sie im Rollstuhl. Ein Stilmittel, dachte ich noch wohlwollend. Dann sah ich Pressefotos von ihr in ihrem Kleid. Ich war nicht die einzige, die dachte, sie wolle da etwas verschleiern – im wahrsten Sinne des Wortes.

Als ich schließlich das Video von den Proben mit Monika Kuszyńska anschaute, war für mich klar: Polen schickt eine Rollstuhlfahrerin zum ESC, aber den Rollstuhl soll man dabei möglichst wenig sehen. Akzeptanz sieht irgendwie anders aus. Mit einem derart verhüllten Rollstuhl kann man sich auch gar nicht bewegen und so steht die polnische Sängerin ziemlich starr auf der Bühne herum, bewegt nur einen Arm und singt. Aber immerhin schwingt der Stoff im Bühnenwind.

Ein Rollstuhl ist heute nichts mehr, was man verstecken muss. Gerade die modernen, individuell angepassten Rollstühle sehen gut aus und müssen nicht aus dem Foto genommen oder abgedeckt werden. Ich hoffe, der Rollstuhl wird einmal ein so selbstverständliches Accessoire wie eine Brille. Auch die hatte früher ein ganz schlechtes Image und gilt heute als modisch akzeptiert.