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Behindert ist man nicht. Behindert wird man.

 

Auf dem Z2X-Festival habe ich einen Blitzvortrag gehalten. Ich bin davon überzeugt, dass gleichberechtigte Teilhabe nur gelingen kann, wenn wir Behinderung neu denken. Hier kommt der Vortrag in Textform.

Ich wollte in Frankfurt ins Kino gehen. Ich wohne in London und hatte mich sehr auf den Kinobesuch gefreut, als ich dort beruflich zu tun hatte, denn in Großbritannien lief der Film nicht, den ich unbedingt sehen wollte. Aber als ich an der Kinokasse ankam, sagte man mir, man würde mich nicht alleine ins Kino lassen. Das habe versicherungsrechtliche Gründe. Es sei zu gefährlich.

Ich bin solche Situationen gewohnt. Seit über 30 Jahren versuchen mir andere Menschen zu sagen, was ich kann und was ich nicht kann, weil ich im Rollstuhl sitze. Ich war wütend, ich war enttäuscht, aber ich war kampfbereit und nach ziemlichen langen Diskussionen darüber, ob ich mich wirklich den Gefahren der Frankfurter Kinowelt aussetzen sollte, verkaufte man mir am Ende doch eine Kinokarte.

Und obwohl dieses Beispiel deutlich macht, dass gar nicht ich das Problem bin, sondern das Kino, nimmt man allgemein an, mit behinderten Menschen sei etwas nicht in Ordnung. Sie müssen „repariert“ werden und wenn das nicht geht, dann kann man da eben nichts machen.

Und genau das ist falsch: Dass behinderte Menschen ausgegrenzt werden, nicht voll an der Gesellschaft teilhaben können, schlechtere Bildungschancen haben und schlechter einen Arbeitsplatz finden, liegt nicht einfach daran, dass sie nicht gehen, sehen oder hören können. Es liegt daran, dass die Gesellschaft glaubt, Behinderung sei ein individuelles Problem, ein in der Biologie behinderter Menschen begründetes, und damit richtet man den Blick ausschließlich auf die Defizite, auf das, was diese Menschen nicht können. Deshalb ist Behinderung auch weitgehend eine Angelegenheit des Gesundheitswesens.

Das wird euch vielleicht überraschen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Tatsache, dass ich nicht laufen kann, kein Problem ist. In einer Umgebung wie hier, in der es ebenerdig ist, es eine Rampe zur Bühne gibt und eine Toilette, die ich benutzen kann sowie einen Aufzug, bin ich nicht behindert.

Was mich behindert, ist nicht die Tatsache, dass ich nicht gehen kann, sondern mich behindern Stufen, schmale Türen, Treppen und Menschen. Ja, vor allem Menschen. Denn selbst in einer barrierefreien Umgebung kommt es vor, dass man mich ausgrenzt, weil ich nicht gehen kann, wie in dem Kino in Frankfurt. Auch manche Fluggesellschaft ist immer noch der Meinung, ich dürfe nicht alleine reisen – und das, obwohl ich an die 1.000 Flüge hinter mir habe, die meisten alleine – und selber Personal von Fluggesellschaften schule. Und bis heute fragen mich ständig Menschen, wie ich als Rollstuhlfahrerin eigentlich Journalistin werden konnte und ob das eigentlich ein geeigneter Beruf für mich sei.

Wir haben in Deutschland das Problem, dass Behinderung von Ärzten, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern und Physiotherapeuten definiert und bestimmt wird und nicht von behinderten Menschen selber. Und hinter dieser rein medizinischen Definition schwingt auch immer die Botschaft mit: Du bist nicht in Ordnung, wie du bist. Niemand hinterfragt, was es eigentlich für behinderte Kinder bedeutet, die von klein auf mit dieser Botschaft aufwachsen: Du bist nicht in Ordnung. Dabei sind sie sehr wohl in Ordnung. Sie müssen nur Dinge anders machen, sie bewegen sich anders fort, sie lesen Lippen und sie brauchen ein barrierefreies Umfeld und bedarfsgerechte Unterstützung.

Die Art und Weise, wie wir mit Behinderung umgehen – rein medizinisch – nennt man „medizinisches Modell“ von Behinderung. In Großbritannien hingegen orientiert man sich am „Sozialen Modell von Behinderung“ und der Frage „Was muss getan werden, um Teilhabe zu ermöglichen?“. Was kann die Gesellschaft tun? Barrierefrei bauen zum Beispiel, auch mal im Bestand umbauen. Mitarbeiter entsprechend schulen, damit sie einem nicht den Zugang ins Kino oder ins Flugzeug verweigern. Und vor allem braucht es die Bereitschaft, Dinge zu ermöglichen, nicht zu behindern. Es ist ganz oft eine Frage der Einstellung und nicht immer nur eine Frage des Geldes.

Natürlich geht es nicht darum, jemandem die optimale medizinische Versorgung abzusprechen, aber wenn man am körperlichen Zustand nichts ändern kann, wäre es dann nicht angebracht, die Umwelt, die Vorgänge, die Gegebenheiten an behinderte Menschen anzupassen? Also Behinderung als nicht mehr den rein körperlichen Zustand zu sehen, sondern als die Barrieren, die das Leben behinderter Menschen erschweren. Nicht nur die baulichen, sondern vor allem die organisatorischen.

Ich glaube fest daran, dass wir die Teilhabe behinderter Menschen verbessern könnten, wenn wir Behinderung als gesellschaftliche Aufgabe verstehen würden statt als individuelles Defizit.

Dafür brauchen wir auch rechtliche Rahmenbedingungen, ein vernünftiges Antidiskriminierungsgesetz und ein Teilhabegesetz zum Beispiel, das behinderten Menschen ermöglicht, außerhalb von Heimen im eigenen Wohnraum zu leben, unabhängig vom Einkommen.

Wenn wir gesellschaftliche Teilhabe aller wirklich ernst nehmen, muss sich in diesem Land einiges ändern. Vor allem müssen wir öfter fragen, wie kann man Dinge möglich machen, statt einfach nur zu sagen, es geht nicht oder du kommst hier nicht rein. Behindert ist man nicht, behindert wird man.