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Liliput in Cloppenburg

Wir befinden uns im Jahre 2014. Ganz Deutschland redet von Inklusion, von gleichberechtigter Teilhabe und Rechten von behinderten Menschen. Ganz Deutschland? Nein! In Cloppenburg findet man es offensichtlich immer noch in Ordnung, kleinwüchsige Menschen als Attraktion vorzuführen. Die örtliche Disko kündigte für den 6. Dezember „7 echte Liliputaner“ als Attraktion auf ihrer Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ an.

Nun könnte man sich ohnehin darüber wundern, wieso die Veranstalter glaubten, mit Fabel- und Märchenfiguren und der Zurschaustellung von Menschen mit einer Körpergröße von unter 1,50 Meter mehr Besucher anzulocken. Aber vielleicht ist das ein ernstzunehmendes Signal dafür, dass die Inklusion doch nicht so weit ist, wie man das von einer zivilisierten Gesellschaft annehmen könnte – zumindest nicht in Cloppenburg.

Kleinwüchsigen-Verband empört

Der Protest ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft seit dem Buch Gullivers Reisen, aus dem der Begriff Liliputaner stammt, doch weiterentwickelt hat. Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien zeigte sich empört und verurteilte die Zurschaustellungen von kleinwüchsigen Menschen in der Diskothek: „Die online lesbare Veranstaltungsbeschreibung kündigt an, dass am 06.12.2014 „(…) 7 echte Liliputaner (…)“ auf der Party „Schneewittchen und die 7 Zwerge“ seien. Diese Darstellung ist verächtlich, ablehnend und stellt den kleinwüchsigen Menschen nicht als Mitglied unserer Gesellschaft dar. Vielmehr werden hier Menschen mit Fabelwesen aus dem Buch Gullivers Reisen gleichgestellt und zur reißerischen Akquise von Diskobesuchern missbraucht. Dies ist in jeder Hinsicht menschenverachtend. Menschen als Liliputaner zu bezeichnen, sie zur Belustigung zu missbrauchen und zum Gespött anderer zu machen, gehört untersagt. Wir sehen darin eine massive Missachtung der Menschenwürde.“

Das saß. Die Diskothek änderte ihre Veranstaltungsankündigung um. Aus den Liliputanern wurden Zwerge, womit die Veranstalter zweifelsohne bewiesen, dass sie rein gar nichts verstanden hatten. Als ob der Begriff Zwerge irgendwie besser als Liliputaner wäre. Menschen waren die kleinwüchsigen Darsteller damit ja immer noch nicht und zur Schau gestellt wurden sie dennoch. Und so verteilte sich die Veranstaltungsankündigung weiter im Internet. Allerdings nicht, weil alle unbedingt die „7 Zwerge von Cloppenburg“ sehen wollten, sondern weil man vereint die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

Peinlich

Und irgendwie war der Diskothek das Ganze dann hinterher doch ein bisschen peinlich. Ja, die 174 Partyfotos hat man natürlich dennoch auf Facebook veröffentlicht, aber dort konnte man auch lesen, man habe die Schneewittchen-Party über eine Veranstaltungsagentur gebucht, die dort in deren Programm angeboten wurde.

Weiter heißt es: „Diese Veranstaltung/Party wird unter anderem mit kleinwüchsigen Menschen durchgeführt, welche auch ebenfalls im Text der Veranstaltung beworben wurden. Dies rief bei einigen Gästen und Besuchern Unverständnis und Empörung auf, dies war von uns nicht beabsichtigt. Wir entschuldigen uns hiermit offiziell bei denjenigen, denen dies missfallen hat. Wir wollten nie jemanden diskriminieren oder „zur Show“ stellen!“

Und die Moral von der Geschicht: Menschenunwürdige Darstellungen gehen auch in Diskotheken nicht. Denn offensichtlich haben sich auch Gäste über das Programm beschwert. Die Zeiten, in denen kleinwüchsige Menschen und Menschen, die einfach anders aussehen als der Durchschnitt, ausgestellt wurden, sind Gott sei Dank vorbei. Und wer jetzt sagt, die kleinwüchsigen Darsteller machen doch mit, sollte sich mal fragen, warum das so ist.

 

Goodbye, Stella Young

Am Wochenende starb Stella Young. Sie wurde nur 32 Jahre alt. Stella war eine australische Journalistin und Aktivistin. Bekannt wurde sie nicht zuletzt als Comedian. Sie war ein Vorbild für viele behinderte Menschen auf der ganzen Welt.

Stella hatte Osteogenesis Imperfecta, umgangssprachlich Glasknochen genannt, und saß deshalb im E-Rollstuhl. Sie starb am Samstag völlig unerwartet und schmerzlos, teilte ihre Familie mit. Die Reaktionen, vor allem im englischsprachigen Internet auf ihren Tod waren überwältigend. Stella Young war am Sonntag, als ihr Tod bekannt wurde, einer der meist genutzten Begriffe auf Twitter.

Ich habe Stella während der Paralympics in London gesehen, als sie mit den Abnormally Funny People auftrat. Sie war eine hervorragende Künstlerin und Aktivistin, die das Publikum gleichzeitig zum Lachen bringen konnte und ihnen zudem ein anderes – oder wie sie es nannte – „wahres“ Bild vom Leben mit Behinderung zu vermitteln.

Behinderung nicht als Defizit sehen

Stella setzte sich vor allem dafür ein, Behinderung zu normalisieren und nicht mehr als Defizit zu betrachten. „Mit 17 habe ich endlich die Wahrheit erfahren“, sagte sie oft. Da habe ihr jemand vom sozialen Modell von Behinderung erzählt. „Ich habe gelernt, dass nicht ich falsch für diese Welt bin, sondern dass die Welt falsch für mich ist“, sagte sie. Sie sprach von da an von „behinderten Menschen“ und nicht mehr von „Menschen mit Behinderungen“, denn sie wollte nicht, dass man die Behinderung irgendwo hinten verstecken muss. Stella Young wollte klar machen, dass behinderte Menschen behindert werden und Behinderung nicht in erster Linie ein körperlicher Zustand ist. Dafür nutze sie ihre zahlreichen Medienauftritte, ihr Comedyprogramm und Vorträge. Den bekanntesten Vortrag hielt sie bei TEDx in Sydney.

Inspirationsporno

In diesem legendären TEDx-Talk sprach sie darüber, wie behinderte Menschen als Inspiration missbraucht werden, nicht zuletzt auf Social-Media-Kanälen. Sie kritisierte zum Beispiel viel geteilte Sprüche wie „The only disability in life is a bad attitude“ (Die einzige Behinderung im Leben ist eine schlechte Einstellung).

„Inspirationsporno“ nannte Stella diese Bilder. „Wir objektivieren die Gruppe behinderter Menschen zum Nutzen der Gruppe nichtbehinderter Menschen.“ Stella fragte in ihrem TEDx-Talk: „Ist es wirklich fair, Menschen als Inspiration zu benutzen, nur weil sie ihren Körper so nutzen wie sie ihn nutzen können?“, fragte Stella. Und zudem seien die Sprüche auch nicht wahr: „Noch nie haben sich Stufen in eine Rampe verwandelt, nur weil ich sie freundlich angelächelt habe.“ Die Behinderung – in dem Fall die Stufen – bleiben, auch wenn sie ihre Einstellung dazu ändere. Sie lebte das soziale Modell von Behinderung überall – Barrieren in der Umwelt waren für sie die Behinderung, nicht ihre Diagnose oder ihr Körper.

Stella Young hat uns behinderten Menschen viel hinterlassen. Sie wollte, dass behinderte Menschen sich selbst als normalen Teil der Gesellschaft sehen und so gesehen werden und sie irgendwann nichts Besonderes mehr sind. Kein Inspirationsporno mehr und kein Mitleid. Stattdessen wollte sie gleiche Rechte und setzte sich sehr für eine bessere Teilhabe behinderter Menschen in Australien und auf der ganzen Welt ein. Wenige Wochen vor ihrem überraschenden Tod hat der Sydney Morning Herald einen Brief von ihr an ihr 80-jähriges Selbst veröffentlicht. Sie ist leider keine 80 geworden, trotzdem enthält der Brief tolle Botschaften, auch was ihren Tod angeht.

Stella ist nicht mehr da, aber ihre Botschaften leben weiter. Wenn das nächste Mal der „Behinderung ist nur eine falsche Einstellung“-Spruch in der Timeline auftaucht, ihn einfach nicht mehr zu teilen, wäre schon ein Anfang.

 

Vom Helfen und Hilfe annehmen

„Ich weiß immer nicht, ob ich fragen soll, ob jemand Hilfe braucht“, ist einer der Sätze, die ich ziemlich oft höre, wenn mir andere von ihren Berührungsängsten erzählen, die sie im Umgang mit behinderten Menschen haben.

Einfach fragen

Ich finde, jemanden zu fragen, ob er Hilfe braucht, ist so gut wie nie verkehrt. Ich freue mich eigentlich über jedes Hilfsangebot, lehne die meisten aber ab, schlicht und einfach, weil ich es selber kann, auch wenn es vielleicht etwas länger dauert. Es hängt aber auch von meiner Tagesform ab und ehrlich gesagt auch, wer mir Hilfe anbietet. Sich helfen zu lassen ist nämlich auch Vertrauenssache. Von jemandem, der beispielsweise nicht mehr ganz nüchtern wirkt, werde ich mir sicher nicht eine Stufe hoch helfen lassen.

Was mich allerdings nervt ist, wenn ich drei Mal gefragt werde, ob ich wirklich keine Hilfe benötige, auch wenn ich das Hilfsangebot schon zwei Mal freundlich abgelehnt habe. Es ist nett, Hilfe anzubieten, aber man muss dann auch akzeptieren können, wenn dieses Angebot abgelehnt wird. Und was ich auch nicht mag: Wenn ich die Hilfe von jemandem annehme, dieser dann ein riesiges Trara darum macht, wie hilfebereit er doch sei im Gegensatz zu anderen Leuten. Wer nur hilft, um sich hinterher selber auf die Schulter zu klopfen, kann es auch gleich sein lassen.

Das Kofferproblem

In den vergangenen vier Wochen war ich in Wien. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die immer mit ihrem halben Hausstand verreisen, sondern nehme so wenig wie möglich mit – da ich zumindest geschäftlich fast immer alleine reise, muss ich ja schon schauen, dass ich das Gepäck irgendwie alleine vom Flughafen zum Hotel transportiert kriege. Das heißt, ich versuche entweder so wenig mitzunehmen, dass die Tasche hinten an den Rollstuhl passt, oder ich habe einen Koffer, den ich vor mir herschiebe. Das mit dem Schieben funktioniert auf ebener Strecke ganz gut, bei längeren Strecken weiß man allerdings am nächsten Tag dank des Muskelkaters, was die Oberarmmuskeln geleistet haben.

Für den Aufenthalt in Wien reichte die kleine Tasche nicht mehr, sondern der Koffer musste mit. Vom Flughafen bis zum Hotel nahm ich erst den Flughafenzug CAT und dann die U-Bahn. Beim Ein- und Aussteigen in die Züge fragte ich immer jemanden, ob er mir den Koffer über die Schwelle heben kann, denn zum Rollstuhlfahren über Schwellen brauche ich schon zwei Hände und eine dritte Hand zum Kofferschieben habe auch ich nicht. Ich finde eigentlich immer jemanden, der mir dann hilft.

Die meisten Menschen helfen gerne

Grundsätzlich habe ich mit der Hilfsbereitschaft der Menschen fast auf der ganzen Welt gute Erfahrungen gemacht. Nur in Schweden hatte ich ein paar Probleme. Immer wenn ich jemanden um etwas gebeten habe, wurde ich gefragt, warum ich denn keine persönliche Assistenz habe oder wo diese sei. In Schweden leben viel mehr Menschen mit persönlicher Assistenz als das in Deutschland oder anderen europäischen Ländern der Fall ist. Es ist dort einfach normal, dass behinderte Menschen sich ihre Assistenz selbst organisieren und ihre Assistenten selbst beschäftigen, finanziert durch Zahlungen des Staates. Dennoch fand ich die Reaktionen mancher Schweden etwas merkwürdig. Auch wenn behinderte Menschen dort öfter mit Assistenz leben, kann das ja nicht bedeuten, dass man diese grundsätzlich dabei haben muss. Es ist nun wirklich kein Problem, mir mal ein Joghurt aus dem Supermarktregal zu geben oder mir den Kaffee an den Tisch zu bringen.

In Wien ist mir dann bei der Abreise etwas sehr nettes passiert. Ich war um 6.30 Uhr morgens in der U-Bahn mit meinem Koffer und fragte eine Frau neben mir, ob sie mir den Koffer in die Bahn nehmen kann. Wie gesagt, ich brauche meine beiden Hände, um den Rollstuhl über die Schwelle der U-Bahn zu kriegen. Das war auch kein Problem, sie nahm den Koffer mit hinein. Drinnen fragte sie mich dann, wo ich denn hin unterwegs sei. Ich erklärte ihr, ich sei auf dem Weg zum Flughafen und würde in Wien-Landstraße in den Flughafenzug umsteigen. Sie bot mir an, mich zu begleiten und mir den Koffer bis zum Zug zu bringen, denn sie sei sowieso viel zu früh zu ihrem Termin und hätte noch Zeit zu überbrücken. Die nette Wienerin hat mir dann tatsächlich den Koffer durch die halbe Stadt bis zum Zug gezogen – ohne viel Aufhebens darum zu machen und hat mir so den Muskelkater erspart. Danke, liebe Wienerin!

 

Die Bildungsmisere gehörloser Menschen

Am 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Aus diesem Grund hat der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) auf die prekäre Bildungssituation gehörloser Menschen aufmerksam gemacht. Schätzungsweise nur 3 Prozent der etwa 10.000 gehörlosen Österreicher haben Matura, also das österreichische Abitur, sagten die Vertreter des ÖGLB. Nur 1 Prozent hat einen Hochschulabschluss.

Es gibt also ein enormes Bildungsdefizit gehörloser Menschen, denn eigentlich müsste der Anteil gehörloser Menschen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, genauso hoch sein, wie der hörender Menschen. Als Folge der schlechten Schulbildung hätten gehörlose Menschen in Österreich eher niedrig bezahlte Berufe wie Näherin oder Reinigungskraft, sagte die Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und Nationalratsabgeordnete, Helene Jarmer.

Und wer jetzt glaubt, das sei ein rein österreichisches Problem, der irrt. Auch in Deutschland kämpfen Eltern dafür, dass ihre gehörlosen Kinder mit Dolmetscherunterstützung Regelschulen besuchen können, damit sie den Weg zum Abitur oder zumindest den für sie angemessenen Bildungsabschluss schaffen. Sie ziehen vor Gerichte und müssen sich mit Ämtern Auseinandersetzungen liefern, weil diese die Kosten für die Dolmetscher nicht zahlen wollen und den Eltern stattdessen sagen, die Kinder sollten auf eine Gehörlosenschule gehen – eben auf die Schulen, die die Bildungsmisere gehörloser Menschen mit verursacht haben. Stattdessen möchten die Eltern die gleichen Bildungschancen für ihre Kinder haben.

Lippenlesen und raten

Ein Grund für die Bildungsmisere ist die negative Einstellung zur Gebärdensprache. Was viele nicht wissen: Selbst Lehrer an Gehörlosenschulen müssen nicht unbedingt Gebärdensprache können, wenn sie dort unterrichten. Man erwartet von den Kindern, dass sie Lippen lesen. Aber die Vorstellung, dass man alles von den Lippen ablesen kann, ist falsch. Die deutsche Sprache können auch geübte Lippenleser nur zu 30 Prozent ablesen. Der Rest muss kombiniert oder aus dem Zusammenhang geraten werden.

Bei der Bildungsvermittlung auf 70 Prozent Raterei zu setzen, ist ein sehr gewagtes Konzept. Viele Eltern gehörloser Kinder haben das erkannt und möchten deshalb, dass ihre Kinder bilingual aufwachsen – mit Gebärdensprache und Lautsprache. Für die gehörlosen Kinder ist Gebärdensprache so etwas wie ihre Muttersprache, die Basis, auf der sie aufbauen können, um Lautsprache zu lernen. Gebärdensprache ist die Sprache, in der man ihnen am besten Wissen vermitteln kann.

Mailänder Kongress

Das Konzept, ausschließlich auf Lautsprache an Gehörlosenschulen zu setzen, geht auf den Mailänder Kongress von 1880 zurück. Dort wurde beschlossen, dass die Gebärdensprache als Unterrichtssprache an Schulen nicht mehr benutzt werden sollte. Diese Ablehnung der Gebärdensprache hat die Bildung gehörloser Menschen massiv behindert und führte damals zu einem Berufsverbot für gehörlose Lehrer. Nach über einem Jahrhundert hat man nun endlich erkannt, dass der Weg falsch war, auch wenn es immer noch Lehrer und Eltern gibt, die Gebärdensprache als etwas hinderliches ansehen.

Die Statistik aus Österreich ist sicherlich ein Alarmsignal. Sie kann als Maßstab gelten, um zu überprüfen, ob sich wirklich etwas tut im Bereich der schulischen Inklusion und ob gleiche Bildungschancen vorhanden sind. Erst wenn sich die Zahlen normalisieren, also gehörlose Menschen genauso häufig Matura beziehungsweise Abitur machen wie hörende Menschen, kann man von gleichen Bildungschancen für gehörlose Menschen sprechen.

 

Blaue Mützen für Barrierefreiheit im Internet

Köpfe mit blauen Mützen
Bild: BIZEPS

Am 30. November ist der Tag der blauen Mützen. Es ist Blue Beanie Day. Leute auf der ganzen Welt ändern dann ihre Profilfotos und laden Fotos hoch, die sie mit blauen Mützen zeigen. Damit wollen sie auf die Wichtigkeit von Webstandards aufmerksam machen. Dass wir beispielsweise eine Webseite betrachten können, egal welchen Browser wir dafür benutzen, ist nämlich kein Zufall, sondern Standards zu verdanken, auf die sich die Internetbranche geeinigt hat, an die sich aber immer noch nicht alle halten.

So legt das World Wide Web Consortium (W3C) Standards fest, wie Webseiten technisch zu gestalten sind, damit sie mit unterschiedlichsten Browsern, aber zum Beispiel auch mit verschiedenen Eingabegeräten zu benutzen sind. Für behinderte Menschen sind dabei insbesondere die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) von Bedeutung. Denn, nur wenn Webdesigner sicherstellen, dass sie die WCAG anwenden, können viele behinderte Menschen das Web ohne Einschränkung nutzen, beispielsweise mit Sprachausgaben, die blinden Menschen den Bildschirminhalt vorlesen, ohne eine Maus oder mit speziellen Eingabegeräten wie einer Kopfmaus.

Warum blaue Mützen?

Autor und Webdesigner Jeffrey Zeldman hat vor Jahren ein Buch über Webstandards geschrieben und sich dabei mit einer blauen Mütze für das Cover abbilden lassen. Dieses Buchcover inspirierte die Erfinder des Blue Beanie Day dazu, sich immer am 30. November eines jeden Jahres eine blaue Mütze aufzusetzen, sich zu fotografieren und so auf Webstandards aufmerksam zu machen.

Jeder Webseitenbetreiber kann etwas tun

Die blaue Mütze ist natürlich nur ein Symbol. Das Web wird nicht automatisch barrierefrei, weil alle plötzlich blaue Mützen tragen. Aber natürlich können Webseitenbetreiber auch konkret etwas tun: Man kann zum Beispiel mal probieren, über die eigene Webseite zu navigieren, ohne eine Maus zu benutzen. Blinde Menschen nutzen keine Maus, um zu navigieren, sondern bewegen sich beispielsweise mit der Tastatur durch die Seite.

Man kann auch einen Schnelltest machen, wie barrierefrei die eigene Seite ist. Oder man kann sich bei der W3C ganz allgemein über Webstandards informieren.

Braucht man wirklich die Grafiken mit Buchstaben und Zahlen, die man kaum lesen kann, aber eintippen muss, um an ein Webangebot zu kommen, die vielleicht auf der Seite eingebunden sind, sogenannte Captchas? Gibt es nicht eine alternative Lösung? Und wenn sie notwendig sind, kann man sie lösen, ohne sehen zu können? Man kann aber vielleicht auch das nächste Video, das man auf YouTube hochlädt, einfach mal untertiteln, damit auch gehörlose Nutzer etwas davon haben. Es gibt viele kleine Sachen, die man an einer Webseite verbessern kann, die aber einen großen Unterschied für behinderte Nutzer bedeuten können.

 

Bitte warten

Wenn man Rollstuhl fährt, ist Geduld unverzichtbar. Sonst hat man ein echtes Problem im Alltag. Wenn man behindert ist, wartet man eigentlich ständig auf irgendwas: Dass jemand den Seiteneingang aufmacht, jemand den Antrag bearbeitet, der Behindertenparkplatz frei wird, den jemand nutzt, der „nur mal schnell“ zur Post wollte.

In letzter Zeit warte ich ziemlich viel vor Behindertentoiletten. Das bringt das Reisen so mit sich, denn Behindertentoiletten an Flughäfen werden für alles Mögliche genutzt und vor allem von allen möglichen Leuten. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal „mal eben schnell“ auf eine Flughafentoilette gehen konnte. Sie sind immer besetzt. Und Sie ahnen es, die Leute, die die Toiletten nutzen, haben in der Mehrheit der Fälle keine sichtbare Behinderung.

Keine Wahl

Ich stehe dann teilweise bis zu 15 Minuten vor einer der wenigen Behindertentoiletten im Terminal, während es im Raum nebenan jeweils zehn Toiletten für Frauen und weitere zehn Toiletten für Männer gibt, die ich aber nicht nutzen kann. Behindertentoiletten sind größer als nicht barrierefreie Toiletten, wo man mit dem Rollstuhl teilweise nicht einmal durch die Tür passt. Barrierefreie Toiletten haben Griffe, an denen man sich festhalten kann und einen Alarm, falls man Hilfe braucht, weil man zum Beispiel hingefallen ist.

Nun ist die Anzahl der barrierefreien Toiletten sowieso schon knapp. Die Lage wird nicht besser, wenn sie von Leuten benutzt werden, die sie gar nicht benötigen sondern ewig belegen, weil sie sie zum Beispiel zum Umziehen oder zum Koffer umpacken benutzen – an Flughäfen beides sehr beliebt. Was auch immer wieder vorkommt ist, dass Leute das Waschbecken in einer Behindertentoilette mit einer Dusche verwechseln und deshalb den ganzen Raum unter Wasser setzen.

Das ist besonders toll, wenn man sowieso schon aufpassen muss, dass man beim Umsetzen nicht zwischen Toilette und Rollstuhl fällt, dann aber der Rollstuhl schön rutscht, weil der Boden unter Wasser steht.

Geflutete Toilette und Gürtel in der Hand

Letztens sah ein Mitarbeiter am Flughafen Heathrow, dass ich schon ewig vor der Toilette wartete. Irgendwann wurde es ihm zu bunt. Er fragte mich, ob ich gesehen hätte, ob da ein Rollstuhlfahrer drin sei und ich sagte ihm, es sei ein Mann im Anzug gewesen, nicht offensichtlich behindert. Der Mitarbeiter klopfte also an die Türe und rief, die Person solle endlich die Toilette freigeben, wenn er nicht behindert sei. Ich habe keine Ahnung, was der Mann dort gemacht hat. Er öffnete die Tür, seinen Gürtel in der Hand. Die Toilette stand völlig unter Wasser und der Wasserhahn lief. Danach konnte das Personal vom Flughafen erst einmal die Toilette wieder trockenlegen und ich musste weiter warten.

Genau wegen solcher Leute sind viele Behindertentoiletten unterdessen abgeschlossen. Rollstuhlfahrer und andere behinderte Menschen, die auf die Benutzung dieser Toilette angewiesen sind, können einen Schlüssel kaufen, mit dem man die Türen von Behindertentoiletten öffnen kann. Nur an Flughäfen verbaut man diese Schließanlagen ungerne, weil die Schlüssel zwar europaweit verbreitet sind, aber eben nicht weltweit.

Ich reiße niemandem den Kopf ab, wenn er mal eine Behindertentoilette nutzt, wenn alle anderen besetzt sind. Ich kann auch mal warten, aber nicht jeder kann das. Wenn zehn andere, nicht barrierefreie Toiletten nur fünf Meter nebenan sind, muss man dann wirklich die einzige barrierefreie Toilette nutzen? Und wenn das schon sein muss, dann doch bitte nicht länger als nötig und ohne die Toilette in einen unzumutbaren Zustand zu versetzen.

 

Schwer vermittelbar

Behinderte Menschen haben es auf dem Arbeitsmarkt weiter schwerer als nichtbehinderte Menschen, berichtete gestern Tagesschau.de. Laut der Bundesagentur für Arbeit sind sie in der Regel besser qualifiziert als nichtbehinderte Arbeitslose, aber dennoch deutlich länger ohne Job.

Kaum jemand mit einer Behinderung wird das überraschen, denn das ist leider die Erfahrung, die viele behinderte Menschen machen, wenn sie sich um einen Job bemühen. Selbst finanzielle Anreize für den Arbeitgeber und gute Beziehungen nutzen manchmal nichts. Wer eine Behinderung hat, hat es schwer, Arbeitgeber von den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen. Kaum ein Vorurteil hält sich hartnäckiger in der deutschen Gesellschaft als das, dass Menschen mit Behinderungen nicht leistungsfähig seien. Und wer stellt schon gerne Mitarbeiter ein, die er für nicht leistungsfähig hält?

Zahnloser Tiger

Trotz Einser-Abitur und Top-Abschluss schaffen es viele doch nicht auf den ersten Arbeitsmarkt oder ihnen bleibt nach einem Unfall oder Krankheit verwehrt, im normalen Berufsleben wieder Fuß zu fassen. Dem soll die Schwerbehindertenquote entgegenwirken. Eigentlich ist jeder Arbeitgeber mit mehr als 20 Mitarbeitern verpflichtet mindestens 5 Prozent seiner Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen. Ansonsten müssen diese Unternehmen eine Ausgleichsabgabe zahlen. Wie gut dieses Instrument funktioniert, sieht man an den Arbeitslosenzahlen: Die Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten steigt, während die Arbeitslosigkeit insgesamt zurückgeht. Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe sehen anders aus.

Hinzu kommt, von den knapp 143000 Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern, beschäftigen mehr als 37000 überhaupt keinen schwerbehinderten Menschen, berichtete der Tagesspiegel Anfang des Jahres.

Hoher Schadenersatz

Das heißt, das Instrument der Ausgleichsabgabe funktioniert teilweise überhaupt nicht und insgesamt nicht gut genug. Die Ausgleichsabgabe ist zum einen sehr niedrig. Es tut den Unternehmen nicht wirklich weh, sie zu zahlen. Zum anderen ist eine Quote auf Papier nichts wert, wenn sie viel zu viele ignorieren. Großbritannien hat die Quote daher schon vor Jahrzehnten abgeschafft und setzt stattdessen auf hohe Schadenersatzleistungen, wenn ein Arbeitgeber überführt wird, Bewerber aufgrund ihrer Behinderung abzulehnen oder behinderte Mitarbeiter zu diskriminieren.

Viele Arbeitgeber kontrollieren seitdem ihren Bewerbungsprozess, in dem sie darüber Statistiken führen, wie viele behinderte Bewerber sie hatten und wie viele davon einen Job bei ihnen bekommen haben. Vor allem bei großen Konzernen macht das durchaus einen Unterschied, denn nur so wird überhaupt einmal realisiert, wo die Probleme liegen und dass es welche gibt. Es fällt dann plötzlich auf, wenn eine Abteilung zwar diverse behinderte Bewerber hatte, aber dort kein einziger behinderter Mitarbeiter eingestellt wurde.

Ansprache behinderter Bewerber

Manche Arbeitgeber versuchen unterdessen, gezielt behinderte Bewerber anzusprechen. Viele britische Konzerne haben sich einem freiwilligen Programm angeschlossen, in dem sie sich verpflichten, behinderten Bewerbern, die die Qualifikation mitbringen, in jedem Fall zum Bewerbungsgespräch einzuladen, um die Zahl ihrer behinderten Mitarbeiter zu erhöhen.

Wenn also die Ausgleichsabgabe nicht hilft, die Arbeitslosenquote behinderter Menschen nachhaltig zu verbessern, sollte man wirklich mal darüber diskutieren, was alternative Maßnahmen sind anstatt weiterhin auf ein totes Pferd zu setzen.

 

Programmdekade Akzeptanz statt Themenwoche Toleranz

Die ARD ruft zur Toleranz auf. Das hat sie auch bitter nötig, denn wer die Beiträge zur ARD-Themenwoche ansieht, braucht diese auch, zumindest wenn er zu einer der Gruppen gehört, für deren Toleranz die ARD werben möchte. Meine Toleranz stieß schon an Grenzen, da hatte die Themenwoche noch gar nicht angefangen. Auf Großplakaten fragte die ARD, ob ein Rollstuhlfahrer Außenseiter oder Freund ist? Woher soll ich das wissen? Ich kenne den Mann ja nicht. Aber darauf kommt es wohl nicht an, es geht ja um das Merkmal „Rollstuhlfahrer“. Die anderen Gruppen trifft es nicht weniger hart. Da wird gefragt, ob Homosexualität normal oder nicht normal ist, um mal nur ein Beispiel zu nennen.

Akzeptanz statt Toleranz

So eine Kampagne wäre vielleicht in den 50er Jahren willkommen gewesen, nachdem man gerade aufgehört hatte, diese Menschen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit umzubringen, aber 2014 auf Großplakaten Fragen zu stellen, die eigentlich keine mehr sind, sendet ein merkwürdiges Signal und gibt den Ewiggestrigen das Gefühl, dass diese Fragen durchaus noch in Ordnung sind.

Dabei geht es bei dem Umgang mit behinderten Menschen nicht um Toleranz, sondern um Akzeptanz. Ich möchte nicht irgendwo geduldet werden, ich möchte willkommen sein. Es muss normal sein, dazuzugehören. Genau das bedeutet auch Inklusion. Die Gesellschaft ist längst weiter als die ARD sie darstellt. Es gibt ein – wenn auch im Vergleich zu anderen Ländern schwaches – Antidiskriminierungsgesetz. So etwas wie das Flensburger Urteil, bei dem Gäste auf Preisnachlass bei einer Reise klagten, weil sie mit behinderten Menschen im gleichen Speisesaal essen mussten, wurde damals schon scharf kritisiert und wäre heute wohl anders ausgefallen. Die Gesellschaft hat sich weiter entwickelt.

Dass die ARD auch mit dem Begriff Inklusion Probleme hat, zeigte sich in einem Tagesthemen-Beitrag zur Themenwoche. Er zeigte eine Sehbehindertenschule, die zwei sehende Mädchen in einer Klasse hat, und schon ist es Inklusion. Nein, ist es nicht. Es ist Toleranz. Die sehenden Mädchen werden dort geduldet, aber das ist nicht das Ziel. Das Ziel ist Inklusion. Gleiche Bildungschancen für alle – unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sehen können. Thema verfehlt.

Überschwemmung

Indem die ARD eine ganze Woche lang die Zuschauer mit Themen über Minderheiten überschwemmt, macht sie vor allem eines deutlich: Wie wenig die Themen sonst in ihren Programmen vorkommen. Warum braucht man eine Themenwoche, wenn man diese Themen doch das ganze Jahr über ins Programm nehmen könnte? Aber bitte nicht in der Tonlage der Themenwoche – von oben herab an der Oberfläche kratzend – sondern auf Augenhöhe. Mehr Akzeptanz statt Toleranz.

Warum muss ein Beitrag über die Abweisung einer Rollstuhlfahrerin durch Türsteher einer Diskothek in einer Themenwoche laufen? Gehört das nicht das ganze Jahr über, dann, wenn es passiert, in das Regionalprogramm? Und zwar nicht nur in einem empörenden Tonfall, sondern vernünftig journalistisch aufgearbeitet: Was sagt der Diskothekenbesitzer? Was sagt das örtliche Gewerbeaufsichtsamt? Wie schätzt ein Jurist die Lage ein? Warum ist die Disko nicht barrierefrei? Warum hat das Bauamt dann eine Genehmigung erteilt? Wo gibt es Gesetzeslücken?

Um solche und andere Beiträge machen zu können, braucht man aber Redakteure, die sich mit der Thematik auskennen, die nicht Toleranz mit Inklusion verwechseln, die kompetent Interviews zur UN-Behindertenrechtskonvention führen können. Die wissen, wo die Gesetzeslücken sind, wo es Regelungsbedarf gibt und wo die berichtenswerten Projekte zu finden sind.

Raus aus der Nische

Und die Themen gehören in die Mainstream-Programme und nicht in irgendwelche Sondersendungen, Nischenprogramme und Themenwochen. Sie gehören in Politiksendungen, in Verbraucherprogramme, Dokumentationen. Die ARD braucht keine Themenwoche Toleranz, sondern eine Programmdekade Akzeptanz.

 

Der lange Weg zur Inklusion

Der Weg zu Inklusion und voller gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen ist noch weit. Für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung ist der Weg aber wohl noch weiter als für die meisten anderen Gruppen. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bundesvereinigung Lebenshilfe.

Nur eingeschränkte Teilhabe möglich?

Die deutsche Bevölkerung ist überwiegend der Auffassung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Bei der Freizeitgestaltung (Sport, kulturelle Aktivitäten) meinen immerhin 19 Prozent der Befragten, dass dies uneingeschränkt möglich sei. Die große Mehrheit (62 Prozent) glaubt jedoch, geistig Behinderte nur eingeschränkt teilnehmen können. 14 Prozent halten es für kaum oder gar nicht möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung ihre Freizeit selbstständig gestalten.

Ganz ähnlich sieht es bei der Frage nach selbstständigem Wohnen, dem Besuch einer regulären Schule, eigenständigen Urlaubsreisen oder der Teilnahme am regulären Arbeitsleben aus. In diesen Bereichen halten jeweils nur vier bis neun Prozent der Bevölkerung es für möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben uneingeschränkt dabei sein können. 61 bis 75 Prozent sehen eine eingeschränkte Partizipationsmöglichkeit. Dass Menschen mit geistiger Behinderung von vornherein ausgeschlossen sind, glauben je nach Bereich lediglich zwischen 18 und 28 Prozent.

Kaum Kontakt

Nur jeder fünfte Befragte (22 Prozent) gab an, überhaupt Kontakt mit Menschen mit geistiger Behinderung zu haben, sei es in der eigenen Familie, dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention bereits vor fünf Jahren von Deutschland ratifiziert wurde, ist sie als Auslöser für die Inklusionsdebatte weitgehend unbekannt. Nur 22 Prozent der Bevölkerung haben von der UN-Konvention überhaupt gehört.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Men­schen­recht­sübereinkom­men, das neben der Bekräf­ti­gung all­ge­meiner Men­schen­rechte auch für behin­derte Men­schen eine Vielzahl auf die Lebenssi­t­u­a­tion behin­derter Men­schen angepasste Bestimmungen enthält.

Das Bild in der Gesellschaft: Hilfsbedürftig

Auch das Bild von Menschen mit geistiger Behinderung scheint sich nur langsam zu wandeln. Aus Sicht der Befragten sind Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie „hilfsbedürftig“ (88 Prozent). An zweiter Stelle folgt mit 57 Prozent der Begriff „lebensfroh“, knapp dahinter liegen „ausgegrenzt“ und „Mitleid“ mit jeweils 56 Prozent. Jeder zweite Bürger hat Berührungsängste. Nur wenige Befragte glauben, dass Menschen mit geistiger Behinderung „selbstständig“ oder „gut integriert“ (jeweils 18 Prozent) sind. Personen, die in ihrem Umfeld Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen, nennen diese positiven Begriffe allerdings häufiger.

Das Bild stimmt nicht (mehr)

Dass Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie hilfsbedürftig seien, decke sich nur noch sehr bedingt mit der Wirklichkeit, die die Lebenshilfe wahrnehme, sagte deren Vorsitzende Ulla Schmidt. Immer mehr Menschen mit Behinderungen nehmen ihre Interessen unterdessen selbstbewusst in die eigene Hand, sagte sie.

Was mir bei der Umfrage vor allem auffällt, ist der extrem defizitorientierte Blick. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass Inklusion behinderter Menschen nicht oder nur eingeschränkt möglich sein wird, statt zu überlegen, wie es gehen könnte, wird der Weg noch länger werden. Wer von Anfang glaubt, es wird sowieso nicht funktionieren, wird natürlich scheitern. Und gegen das falsche Bild hilft vor allem eines: Kontakt mit den Menschen selber. Wenn nur jeder Fünfte überhaupt Kontakt mit Menschen mit einer geistigen Behinderung hat, dann ist auch klar, woher die Berührungsängste kommen. Was man nicht kennt, verunsichert. Wenn behinderte Menschen mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, dann wird auch diese Angst weniger. Es ist noch ein langer Weg. Deshalb wäre es gut, wenn man mal ein bisschen an Geschwindigkeit zulegen würde.

 

Mit Knopflochkamera für die BBC durch London

Die BBC hat am Montag einen Film über die Barrieren gezeigt, auf die behinderte Menschen in ihrem Alltag stoßen. Ich habe an diesem Film maßgeblich mitgewirkt und fast zwei Wochen lang meinen Alltag gefilmt.

Ich hatte 2013 schon mal mit versteckter Kamera für die BBC gedreht, allerdings nur einen Tag lang. Dabei ging es vor allem um die Barrierefreiheit von öffentlichen Verkehrsmitteln und darum, wie nachhaltig sich die Paralympics in der Stadt bemerkbar machen (oder eben auch nicht). Entstanden ist dieser Film.

Diesmal war alles es etwas anders. Die Kamera war noch kleiner als die, die ich 2013 hatte. Sie war so groß wie ein kleiner Knopf und an einer Tasche befestigt. Man sagte mir gleich am Anfang, sie sei sehr teuer, aber nicht versichert. So war ich in den ersten Tagen völlig nervös, weil ich ständig Angst hatte, die Kamera zu verlieren. Die war zwar gut festgemacht, aber mit einem Wert von 25.000 Euro an der Tasche wird man einfach nervös. Nur nicht im Café die Tasche klauen lassen, nicht am „Knopf“ hängenbleiben, ist die Kamera jetzt an oder aus? Ein entspanntes Leben habe ich diese zwei Wochen lang nicht gehabt.

Gestrandet auf der Dachterrasse

Es war zudem wie verhext: Wann immer ich die Kamera eingeschaltet hatte, lief irgendwas völlig daneben. Noch nie stand ich binnen zwei Wochen vor so vielen defekten Fahrstühlen. Einmal blieb ich um 23 Uhr auf einer Dachterrasse über den Dächern Londons hängen, weil der Lift, mit dem ich hinaufgekommen war, einfach nicht mehr hinunterfahren wollte. Aber das Konzerthaus, auf dessen Dach ich mich befand, um den Geburtstag einer Freundin zu feiern, hatte Gott sei Dank einen Notfalldienst, der auch irgendwann kam und den Fahrstuhl wieder in Gang setzte.

Ich war nicht die einzige, die von der BBC mit einer Kamera ausgestattet wurde. Ein blinder Mann mit einem Blindenführhund bekam ebenfalls eine Kamera, um vor allem das Verhalten von Taxifahrern zu testen. Von 20 Fahrern verweigerten ihm fünf die Mitfahrt, weil sie den Hund nicht mitnehmen wollten. Das ist in Großbritannien illegal.

Bankgeschäfte auf der Straße

Sinn des Filmes ist, die ganz „normalen“ Barrieren zu zeigen, auf die Rollstuhlfahrer und blinde Menschen immer noch stoßen und die es eigentlich längst nicht mehr geben sollte: zum Beispiel Coffeeshops mit Stufen vor der Tür oder, wenn sie keine Stufen haben, mit Stehtischen, an denen ein Rollstuhlfahrer nicht sitzen kann; eine Postfiliale mit Stufe, aber ohne Rampe, deren Filialleiter freundlich anbietet, die Bankgeschäfte doch gleich auf der Straße abzuwickeln; eine Drogerie, die einen Fahrstuhl zur Apotheke hat, mir aber sagt, ich könne den Lift nicht nutzen, weil sie ihn nicht gewartet hätten; Mitarbeiter von Zugunternehmen, die „vergessen“, einen aus dem Zug zu holen, obwohl man sich vorher angemeldet hat. Man hätte einen zwei Stunden langen Film aus den Vorfällen machen können.

Alle oben erwähnten Beispiele sind in Großbritannien übrigens rechtswidrig. Seit 1995 müssen alle Einrichtungen, Geschäfte, Banken und so weiter „angemessene Vorkehrungen“ treffen, um behinderten Menschen einen gleichwertigen Service wie nicht behinderten Menschen anzubieten. Dazu gehören zum Beispiel portable Rampen, die ein oder zwei Stufen überbrücken helfen. Treffen die Einrichtungen und Geschäfte diese Vorkehrungen nicht, machen sie sich schadensersatzpflichtig. Zwar sind die Summen, die für Diskriminierung gezahlt werden, im Königreich noch nicht ganz so hoch wie in den USA, aber dennoch sorgen sie dafür, dass ziemlich viel getan wird.

Fairerweise muss man sagen, dass sich viele Unternehmen daran halten und genau diese Vorkehrungen getroffen haben. Oft ist das keine Frage des Geldes – eine portable Rampe kostet etwa 100 Euro – sondern des Willens. Auch die erwähnte Drogeriekette kann sich die Wartung ihrer Lifts sicher leisten. Aber man muss es eben machen. Und was für einen kleinen Laden an der Ecke zu teuer ist, ist dann auch nicht mehr „angemessen“ im Sinne des Gesetzes.

Die schlimmste Situation während des Filmens für mich war, als ich von einem Typen in einer U-Bahnstation belästigt wurde, der vorgab, mir doch nur helfen zu wollen, um mich später mit Gegenständen zu bewerfen. Bis zum Schluss wurde diskutiert, ob diese Szene im Film bleiben sollte. Erst mit Ausstrahlung sah ich, dass sie nicht gezeigt wurde. Eigentlich handelt der Film ja auch von Barrieren und nicht von kriminellen Übergriffen.

Gewöhnungssache

Interessant für mich war, das Material hinterher anzuschauen, denn ich habe viele Situationen teilweise gar nicht so krass wahrgenommen, wie sie aber de facto waren. Das wurde mir erst klar, als ich die Aufzeichnungen sah. Etwa respektlose Restaurantmanager und Angestellte, die mir sagen, ich solle doch draußen essen, da gebe es niedrige Tische. Doof dabei war nur, dass es in Strömen regnete.

In der Situation selber fielen mir die teilweise unverschämten Reaktionen gar nicht mehr auf. Ich war nur noch auf Problemlösung aus, was im Alltag wohl auch wirklich besser ist, als sich auch noch über das Benehmen aufzuregen. Aber an der Reaktion des BBC-Teams, wenn ich neues Material überspielte, merkte ich schon, was ich als normalen Alltag empfand, war für nicht behinderte Zuschauer, die diese Situationen nicht so kennen, total schockierend. Ich bin das einfach gewöhnt.

Ich war am Ende froh, die Kamera wieder zurückgeben zu können. Dennoch finde ich es wichtig, dass es solche und ähnliche Fernsehprojekte gibt. Was geändert werden muss, um behinderten Menschen die Teilhabe am normalen Leben zu ermöglichen, wird vielen erst bewusst, wenn sie die Probleme mal gesehen haben – und sei es im Fernsehen. Das ist viel effektiver, als irgendwelche Promis in Rollstühle zu setzen.