Das Landgericht Gießen hatte heute über Leben und Tod eines zweijährigen Jungen zu entscheiden. Der türkische Junge Muhammet war im März nach Deutschland gekommen, um an der Uniklinik Gießen ein Spenderherz zu bekommen. Doch kurz vor der Abreise erlitt der Junge einen Herzstillstand und hat seitdem eine Hirnschädigung. Kann ein Kind mit dieser Schädigung ein Transplantationsorgan bekommen? Die Ärzte der Uniklinik sagen Nein und dieser Auffassung schloss sich heute auch das Landgericht an.
Diskriminierung?
Der Anwalt der Familie, Oliver Tolmein, spricht von Diskriminierung aufgrund der Behinderung des Jungen. Die Begründung, ein Kind mit einer Hirnschädigung, könne allein wegen dieser Hirnschädigung kein Herztransplantat erhalten, stellt seiner Meinung nach eine Benachteiligung wegen der Behinderung dar. Diese ist durch Artikel 3 Abs 3 Satz 2 Grundgesetz und durch Artikel 25 UN-Behindertenrechtskonvention untersagt.
Unter Umstände müsse dabei auch geprüft werden, ob die Allgemeinen Grundsätze für die Aufnahme in die Warteliste in der vorliegenden Form gegen das Diskriminierungsverbot für Menschen mit Behinderungen verstoßen und ob sie auf einer rechtlich tragfähigen Grundlage stehen, so Anwalt Tolmein – in der Vergangenheit ist das von Experten und Organisationen mit guten Gründen bezweifelt worden.
Misstrauen
Unter vielen behinderten Menschen gibt es schon lange ein gewisses Misstrauen gegenüber der Medizin und wie sie mit Menschen mit Behinderungen im Ernstfall umgeht. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft mir Freunde, die eine Behinderung haben, hinter vorgehaltener Hand gesagt haben, dass sie ihren Organspendeausweis vernichtet haben oder sich gar keinen angeschafft haben, weil sie Angst haben, dass bei ihnen die Maschinen schneller abgeschaltet werden als bei einem anderen Menschen, weil ihr Leben als weniger lebenswert eingestuft werden könnte.
Ich kenne zudem zwei Fälle in meinem Umfeld, bei denen der behinderte Patient selbst sowie Eltern eines behinderten Kindes einen Vermerk in der Krankenakte fanden, dass der Patient im Ernstfall nicht zu reanimieren sei – und das obwohl niemals jemand mit ihnen darüber gesprochen hatte, wie sie bzw. das Kind denn in solch einem Fall behandelt werden soll.
Umgekehrt befürchten einige, dass es für sie viel schwieriger sein könnte, auf die Transplantationsliste zu kommen. Vor allem Menschen mit schweren Behinderungen, die auf Rund-um-die-Uhr-Assistenz angewiesen sind, befürchten, im Falle eines Falles leer auszugehen. Dass das nicht ganz unbegründet sein könnte, zeigt jetzt der Fall des kleinen Muhammet.
Gesetzgeber gefragt
Anwalt Oliver Tolmein ist, anders als das Gericht, nicht davon überzeugt, dass keine Diskriminierung vorliegt. Er will notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um durchzusetzen, dass auch ein so schwer behindertes Kind wie Muhammet ein Spenderorgan erhalten kann.
Bei solchen Fällen ist auch der Gesetzgeber gefragt, der es seiner Meinung nach versäumt hat, eine Vielzahl von wichtigen Fragen des Transplantationsrechts zu regeln, darunter auch, ob auch sehr eingeschränkte behinderte Menschen ein Anrecht auf ein Spenderorgan haben. Der Organspendebereitschaft von Menschen mit Behinderungen hat der Fall schon jetzt sicherlich geschadet.