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Traumberuf: Polizeitaucher

 
Nick Talbot zeichnet deftige Comics und schreibt ein böses Weblog. Doch wenn er für seine Band Gravenhurst die Gitarre in die Hand nimmt, wird er sanftmütig und rührend.

Gravenhurst The Western Lands

Der Engländer Nick Talbot zeichnet Comics. Im Magazin Ultraskull veröffentlicht er Bildfolgen über männliche Geschlechtsteile, explodierende Köpfe und umherfliegende Gliedmaßen. Sein Spott gilt Konservativen und Polizisten. Die Zeichnungen sind sarkastisch, wirklich komisch ist nur die Geschichte des besserwisserischen Mr. Shellac. Der Leser erfährt, welche Musik die Redaktion – die nur aus Nick Talbot besteht – gern hört, wie man jemanden gleich beim ersten Versuch richtig ersticht und Ähnliches. Nicht ohne Stolz wird auf der Website des Magazins berichtet, The Spectator fände das alles „liederlich“, der Salisbury Review nenne es „infantil“ und The American Conservative empfinde es als „beispielhaft für den moralischen Verfall unserer Zeit“. Vielleicht hat sich die Redaktion das aber auch nur ausgedacht.

Nick Talbot unterhält auch das Weblog The Police Diver’s Notebook. Regelmäßig kommentiert er die Arbeitsmarkt- und Drogenpolitik in Großbritannien, amerikanische Konservative, Bücher und Filme und Entwicklungen im Fall Lady Di. In einem aktuellen Beitrag widmet er sich kenntnisreich den Planungen einer nationalen DNS-Datenbank und der Einführung biometrischer Ausweise. Von Beruf sei er, so steht es in seinem Profil, Polizeitaucher. Sehr witzig.

Denn eigentlich ist er Musiker, unter dem Namen Gravenhurst hat er bislang vier Alben veröffentlicht. In seiner Musik offenbart sich die andere Seite des Nick Talbot. Wenn er die Gitarre in die Hand nimmt, scheint kaum mehr Sarkasmus übrig zu sein. Er singt über das entfremdete Individuum und unmögliche Beziehungen. Auf dem letzten Album hieß es im Song From Under The Arches: „I’ve seen bad things in bad places / What did I learn? Wallow in grime / Tonight we’ll drink the sewers dry / We can’t function outside of these dreams of suicide.“

Die erste Platte von Gravenhurst hieß Internal Travels und erschien im Jahr 2001. Heute ist sie nicht mehr erhältlich, Nick Talbot stört das kaum, er mag sie nicht. Wie auch das zweite Album Flashlight Seasons nahm er es alleine mit der akustischen Gitarre auf. Er sang folkige Lieder mit weicher Stimme, oft erinnerte das an Simon & Garfunkel – ohne Bombast, Streicher und anderen Kleister. Das Elektronik-Label Warp nahm ihn 2004 unter Vertrag und veröffentlichte Flashlight Seasons erneut, ohne Erfolg.

Den brachte erst die Single The Velvet Cell. Drei Monate zuvor hatte Warp Maxïmo Parks Debütalbum veröffentlicht und so auch seinen anderen nichtelektronischen Künstlern Aufmerksamkeit verschafft. MTV platzierte das Video zur Single zwischen Kaugummipop und Gangsta-Rap, eine beklemmende Animation begleitete die Worte „I had always thought the desire to kill was a disease you caught. But it’s dormant in the hearts of everyone, waiting for a spark, an emotion.“ The Velvet Cell und das anschließende Album Fires In Distant Buildings verkauften sich respektabel.

Zum ersten Mal spielte Nick Talbot nicht alle Instrumente selbst, Dave Collingwood steuerte die Schlagzeugklänge bei. Und zum ersten Mal waren elektrische Gitarren zu vernehmen. Statt dreiminütiger Folk-Kleinode schaukelten nun lange, behäbige Rocker. Die Stücke waren komplexer und lauter, Simon & Garfunkel wichen dem progressiven Rock der Siebziger. Am Ende stand eine neunminütige Coverversion des Stücks See My Friends von den Kinks. Die Grundstimmung bei Gravenhurst blieb sinister, aus Nick Talbots Stimme sprach Sanftmut. Seit zwei Jahren spielt er nebenher bei Bronnt Industries Kapital. Sie klängen, als beschalle der englische Poet Wilfred Owen die Tanzfläche eines Kerkers mit Diskomusik, schreibt die Band über sich.

Muss man das alles wissen, um Gravenhursts neue Platte zu mögen? Es hilft, sie zu verstehen. Mit The Western Lands hat Nick Talbot den Klang seiner Band weiter verändert. Von den Siebzigern bewegt er sich nun klanglich zu Anti-Folk und Post-Rock, die erste Single Trust könnte auch von Yo La Tengo sein, der lange Instrumentalteil in She Dances erinnert an The Notwist. Wieder hat er, abgesehen vom Schlagzeug, alle Instrumente selbst eingespielt. Er geht behutsamer zu Werk als auf Fires In Distant Buildings, ohne zur Zerbrechlichkeit der ersten beiden Alben zurückzukehren. Die meisten Stücke sind ruhig, immer mal wieder fahren eine Gitarre oder ein Klavier dazwischen, im furiosen Finale von She Dances sogar beide. The Western Lands klingt warm und kompakt. Seine Kompositionen sind fabelhaft.

Verstreut über die Stücke finden sich kulturelle Bezüge, die zweite Single Hollow Men spielt auf T. S. Eliots The Hollow Men an, das Motto der Platte zitiert er nach Oscar Wilde: „Give a man a mask and he will tell you the truth.“ Der Song Among The Pine klingt nach einer Fortführung des bereits angesprochenen Song From Under The Arches. Und mit Farewell, Farewell covert er diesmal die britischen Folkrocker Fairport Convention.

Die Menschen in seinen Liedern leben in der Welt, die er in seinem Blog täglich kommentiert. Ihnen wurde die Freiheit genommen, wie dem Mädchen in She Dances. „’I need new clothes‘, she thinks, ’new skin; a mind I can bear to live in‘.“ Dass er in seiner Musik dieser Welt ohne Zynismus begegnet, macht das Album berührend.

„The Western Lands“ von Gravenhurst ist als CD und LP bei Warp Records erschienen.

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