Milde erfüllt den Frühsommerabend. Der Landwehrkanal fließt in Zeitlupe Richtung Spree, an beiden Ufern sitzen Menschen unter den Bäumen und saugen die letzten Sonnenstrahlen auf, die ersten durch und durch wärmenden des Jahres. Eben verschwindet die Glut hinter den hohen Altbauten, da treten zwei Musiker auf eine schmale Brücke und spielen den Menschen noch ein paar Lieder zur Nacht.
Zu Anfang fummeln sie kaum hörbar an den Wirbeln ihrer Akustikgitarren herum, als wollten sie ja niemanden stören. Das leise Säuseln der Gespräche nimmt ab, bald verstummt es ganz. Die beiden Musiker greifen nun beherzter zu, zupfen an den Saiten, schicken ein Summen über das träge Wasser. Die Instrumente brummen, als hätten sie den Tag über in der Sonne gelegen. Nun geben sie die Wärme ab und halten die Kühle der Nacht noch ein bisschen fern. Aus dem nahe gelegenen Kaffee mischt sich das Klirren abgeräumter Gläser in die Musik, das klingt freudig.
Beim dritten oder vierten Stück tritt jemand zu den beiden auf die Brücke und seufzt in eine Klarinette, eine einfache Melodie. Auf einem nahen Balkon steht ein anderer, der spielt sie auf dem Vibraphon nach, beinahe erklingt ein Kanon. Zwei muskulöse Männer unterbrechen ihren Umzug und lassen ein altes Klavier am Ufer nieder. Einer der beiden klimpert eine Melodie. Das gute Stück ist völlig verstimmt, die tiefen Töne klingen stumpf, als lägen im Rumpf Stapel lang vergessener Liebesbriefe. Später tritt einer mit Cello hinzu und einer mit Banjo. Ständig passiert etwas, nur nichts Dramatisches. Alles wirkt und klingt, als gehöre es genau so und nicht anders.
Die Dunkelheit hat beinahe alles verschluckt. Die beiden zupfen nun energisch gegen die Nacht an, einer stampft den Rhythmus auf den Boden. Ein Schwarm Enten jagt erschreckt in die Luft. Das dumpfe Flirren ihrer Flügel Schläge und ihr mitteilsames Geschnatter tragen das Lied an ein unerwartetes Ende. Die beiden Musiker spielen immer leiser, verstummen schließlich und für ein, zwei Minuten musiziert das vielstimmige Entenorchester. Man möchte den Tieren ihren passenden Einsatz danken, manch einer lacht in die Stille.
Als sie sich schließlich beruhigt haben, spielt die Band noch ein letztes Stück. Mit dem Verklingen des letzten Tons schickt die Sonne den letzten Strahl des Tages. Dreiunddreißig Minuten lang war Licht, obwohl die Sonne längst untergegangen war. Dreiunddreißig Minuten lang war die Wärme dieses ersten Frühsommertages noch einmal zu hören.
So etwas gibt es nur in Berlin? Nein, nicht einmal dort. Die beiden Musiker heißen Jan Thoben und Jochen Briese, ihre Band nennen sie Taunus. Auf die erdachte Brücke traten nach und nach Wilm Thoben, Michael Thieke, Derek Shirley und F.S. Blumm. Harriet heißt die zweite Platte von Taunus. Sie klingt wie die dreiunddreißig Minuten zwischen Tag und Nacht, zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit am Ende eines warmen Tages in der großen Stadt. Sie wärmt und stimmt uns gelassen – und ist viel zu kurz.
„Harriet“ von Taunus ist bei Ahornfelder erschienen.
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