Dies könnte der Soul der Zukunft sein: Flying Lotus kredenzt eine psychedelische Mischung aus Herzrhythmusstörungen und geweiteten Pupillen
Mit einem musikalischen Schaumbad fing 1991 alles an, die EP Analogue Bubble Bath wurde Aphex Twins erstes Meisterwerk. Der kauzige Brite brachte dem Ambientpop die quietschnassen Synthesizertöne bei. Was im Funk einmal der trockene Bass galt, das bedeuteten den Elektronikpionieren bald die glitschigen analogen und digitalen Beats. Übersteuerte Rhythmen und blubbernde Glissandi erzeugten einen typischen Klang, der besonders beim Label Warp zu Hause war. Die verschiedenen Spielarten von bedrohlich abstrakt bis hypnotisch verträumt gehören heute zu den Klassikern der elektronischen Independent-Musik.
Das von Sheffield nach London verzogene Label war und ist aber ebenso eine Plattform für Schräges aus ganz anderen Nischen. Der Kalifornier Steven Ellison ist HipHop-Produzent, DJ, Laptopmusiker und Karikaturist, sein Debütalbum 1983 brachte er unter dem Namen Flying Lotus im Jahr 2006 bei Plug Research in Los Angeles heraus. Dort experimentierte man in den neunziger Jahren mit krachenden Breakbeats, inzwischen ist Steven Ellison nicht der einzige Künstler dort mit einem Hang zu organischen und atmosphärischen Klängen. Ob in seiner Vorliebe für Jazz und brasilianische Musik das Erbe seiner Großtante Alice Coltrane mitschwingt?
Nun erscheint das zweite Album von Flying Lotus bei Warp. Los Angeles badet im Feuchtbiotop elektronischer Psychedelik. Als wäre HipHop zu Hippiezeiten erfunden worden, bekommen Ambientklänge sanfte Herzrhythmusstörungen und die brüchigen Beats geweitete Pupillen. Und was sieht das hörende Auge da nicht alles: seltsame Unterwasserwesen, die kalifornische Metropole als Atlantis, bewohnt von singenden hawaiianischen Nixen und den pumpenden Kiemenhumanoiden aus Drexcyias schwarzer Techno-Saga.
Durch die Titel Breathe.Something/Stellar Star und Beginner’s Falafel galoppiert der Jazz rückwärts in einer antik-futuresken Polonaise über den Meeresboden. Sodann lässt Flying Lotus einen pointierten Takt brasilianischer Herkunft zu Zeitlupenhüftschwüngen zerfließen, während im dämmrigen Gegenlicht knapp unter der Wasseroberfläche die Golden Diva der House-Musik heranschwimmt.
Richtig ausgiebig tobt der House in dem Stück Riot, Aufstand im U-Boot, dumpf prallen die Bässe von den muschelbewachsenen Stahlwänden ab. Der Musikcomputer gibt das versunkene Orakel der Weltpolitik, imitiert arabische Melismen, kämpft gegen sich selbst mit irren Dub-Stampfern, bösem Funk und Experimental-Hop. Auf dem Sexslaveship weinen leise die Keyboards im Tonfall pazifischer Inselbewohner.
Die Stücke sind meist kurz, es gibt keinen Anfang und kein Ende unter Wasser, alles zerfasert wie vorbeitreibende Algenstränge und ist doch Teil des feuchten großen Ganzen. Dazwischen führen Gastsängerinnen mit Jazzstimme kontemplative Selbstgespräche, ein Titel heißt Roberta Flack. In Auntie’s Harp und Auntie’s Lock/Infinitum wird dann doch der berühmten Harfenistin Alice Coltrane gehuldigt, es tönt befreiend statt nostalgisch. Klingt so der Soul der Zukunft?
„Los Angeles“ von Flying Lotus ist auf CD und Doppel-LP bei Warp/Rough Trade erschienen.
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