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Charmanter Drahtesel

 

Über die Jahre (46): Anfang der Siebziger lauschte John Peel dem Straßenmusiker Lol Coxhill – und ließ ihn sogleich eine Platte einspielen: „Ear Of The Beholder“

Der Mann mit Glatze blickt skeptisch drein. „Okay, well, I am Lol Coxhill. This is the first record I’ve made under my own name“, nuschelt er, der Musiker moderiert seine eigene Platte. Manche Stücke gefielen ihm sehr gut, andere fände er ganz in Ordnung, er hasse keines. Das macht Mut.

Und los geht’s mit Improvisation auf dem Sopransaxofon. Coxhill dehnt Töne, jammert Skalen, dazu pfeift der Wind. Der Musiker steht an der Straße, er trägt ein Hawaii-Hemd. Der Hut, der sonst die Glatze bedeckt, füllt sich mit Münzen. Aber schon ist dieser Wachtraum vorbei, der Spielermoderator verspricht „cherished memories of the early thirties“, das Klavier intoniert den alten Schlager Two Little Pigeons, Coxhill und sein Kollege David Bedford singen, als wären sie zwei verliebte Kater.

Ear Of The Beholder ist keine normale Platte. Hier legt sich jemand neben sein frisch gemachtes Bett. Weitere Aufzeichnungen von der Straße folgen, Gespräche mit Kindern, sie singen I Am The Walrus, Improvisationen in holländischen Konzerthallen, Kinderlachen – eins reiht sich ans andere, ganz hemmungslos. Hier wird ohne Rezept gekocht. Angespannt wirken weder der Musiker noch sein Werk, von verkrampftem Eklektizismus keine Spur, fast beiläufig kommt Ear Of The Beholder daher.

Aber was ist das? Jazz? Nur weil einer Saxofon spielt? Experimentelle Improvisation? Weil einer Töne schreddert? Die Schubladen klemmen, hat man Lol Coxhill im Ohr. Vielleicht ist es eher Musik über Jazz, eine Betrachtungsweise. Wo sonst streng geknistert, geraschelt und gequietscht wird, schlendert er zum Vergnüglichen. Gleich ob Shanty, Beatles oder Bossa – jeder kurze Ausflug verleiht Coxhills Musik Objektivität. Der Schalk hüpft durch die Rillen. Die Radiolegende John Peel hat das Doppelalbum im Jahr 1971 veröffentlicht. Damals betrieb er ein kleines Label, dass er nach seinem Hamster benannt hatte: Dandelion.

Die Legende sagt, Peel habe Lol Coxhill auf der Straße gehört und sogleich verpflichtet – damals war der Musiker noch Buchbinder und knappe Vierzig. Wahrscheinlicher ist, dass Peel den Mann mit Glatze aus der Londoner Szene kannte. Das klingt aber nur halb so gut, also glauben wir lieber der Legende. Mit Peel im Rücken war es Coxhill ein Leichtes, große Namen hinter sich zu versammeln: Robert Wyatt, Kevin Ayers und sogar Mike Oldfield – sie alle spielen mit, aber man kann sie nicht orten. Vielleicht gehen sie im Gebrabbel der Kinder unter.

Ear Of The Beholder ist weniger Album, als ein Hörstück aus dem Leben eines Menschen, der nichts als Musik im Sinn hat, der immer spielt. Das Ergebnis erinnert an den alten Drahtesel, den man nicht gegen ein neues Fahrrad eintauschen mag. Seine Macken sind einfach zu charmant.

„Ear Of The Beholder“ von Lol Coxhill ist im Jahr 1971 als Doppel-LP bei Dandelion erschienen. Das Album ist kürzlich als Doppel-CD in eleganter Verpackung in Japan wiederveröffentlicht worden und in Deutschland im Import erhältlich.

Eine vollständige Liste der bisher in der Rubrik ÜBER DIE JAHRE besprochenen Platten finden Sie hier.

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