Auf seinem Album „Great Lengths“ lässt der Produzent Martyn Vertrautes aus zwei Jahrzehnten Clubkultur vorüberziehen – und doch klingt sein Dubstep immer wieder neu
Ein Umzug ist meist eine gute Gelegenheit, sich von Überflüssigem zu trennen. Die Korbsessel, der Reiskocher, das Spiegeleiförmchen – weg damit! Kompliziert wird es allerdings, wenn es an die Plattensammlung geht. Denn dann geht es auch ans Herz.
Welche Musik dem Produzenten Martyn besonders am Herzen liegt, kann man in seinem Blog 3024world nachlesen. Vor einigen Monaten ist er von Rotterdam nach Washington gezogen, der Liebe und der neuen Tapeten wegen. Der Großteil seiner Vinylbestände musste in Holland bleiben, den Rest hat er in 50-Pfund-Kisten verschifft, die Kiste mit den wertvollsten persönlichen Schätzen zuerst: Freigeistiger Jazz fand sich darin, New Wave aus New York, House- und Techno-Maxis aus Detroit – und inmitten dieses ausgesuchten Durcheinanders eine DVD mit einem Dokumentarfilm über Johan Cruyff.
Johan Cruyff? War der nicht Fußballer? Ganz recht, aber kaum jemand hat dieses Spiel auf eine so musikalische Weise interpretiert wie er. Mit seinen Ideen hat er Räume geöffnet, von denen andere gar nicht wussten, dass sie existieren.
Womit wir bei Martyns Debütalbum wären. Es heißt Great Lengths, es klingt nach Cruyff. Die Musik ist ein Sammelsurium von Referenzen. Vertrautes aus zwei Jahrzehnten Clubkultur rollt und rollt und rollt vorbei. Was dort verzahnt wird, ist gar nicht so wichtig. Das Erstaunliche ist vielmehr die Nonchalance, mit der Martyn Gegenläufiges zusammenbringt und x-fach Gesagtes in eine eigene Klangsprache übersetzt.
Dem Stück Seventy Four etwa, einem schwülen Vierviertel-Stampfer, impft er in regelmäßigen Intervallen eine souligen Orgelklang ein. Ein Klangfitzelchen nur, zwei, drei Zehntelsekunden kurz, aber lang genug, um Füße und Sinne zu kitzeln. Würde die Orgeldosis um zwei, drei Sekunden erhöht, der Effekt wäre im Nu verpufft.
Oder These Words, das einzige Stück des Albums mit ausgiebigem Gesang: eine Melodie von betörender Eleganz, dazu nach anderthalb Minuten ein grimmiger Basslauf, der klingt, als wäre er direkt aus einer Londoner Lagerhalle importiert worden. Die Beats stolpern derweil voran, ein paar Pianoakkorde gesellen sich hinzu, und die Stimme, tja: Singt da Mann oder eine Frau? Spielt das überhaupt eine Rolle?
Es singt ein Mann (er nennt sich dBridge), und – nein – es spielt keine Rolle. Martyns Musik lebt von ihrer Uneindeutigkeit. Wo es an der Oberfläche glänzt, da klopft, rumort und raschelt es im Untergrund. Nie verharrt die Musik lange am selben Ort, ständig ist etwas in Bewegung.
In Fachgeschäften wird sie wegen der tiefen Bassfrequenzen gemeinhin unter der Rubrik Dubstep einsortiert. Martyn selbst spricht ganz einfach von „Martyn Music“. Das trifft viel eher den Kern. Denn Great Lengths ist kein Album für Schubladen, höchstens eines für Umzugskartons mit persönlichen Schätzen.
„Great Lengths“ von Martyn ist auf CD und Dreifach-Vinyl bei 3024/Groove Attack erschienen. Die CD enthält 14 Stücke, die Vinylversion sieben.
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