Tim Exiles verwunschenen „Listening Tree“ bewundert man am besten im Club – denn nur dort ist es so laut, dass man keine seiner Einfälle überhört
Tim Exile hat einen Baum gepflanzt, an dessen digitalen Ästen allerlei wächst und gedeiht. Um dem auf der Hülle seines neuen Albums Listening Tree zu bewundernden Wildwuchs Herr zu werden, besorgte er sich Schaufeln, Sägen, Astscheren und andere Gartenwerkzeuge – und erfand ein paar neue dazu.
Tim Exile alias Tim Shaw aus England schöpft mit seinem dritten Album aus dem Vollen, er kann auf seine reiche Erfahrung als Livemusiker zurückgreifen. Seine erste Veröffentlichung Pro Agonist im Jahr 2005 klang noch, als sei ein Landschaftsgärtner am Werke. Er sei wohl etwas zu perfektionistisch an die Sache gegangen, sagt er heute. Im darauffolgenden Jahr brachte er mit Tim Exile’s Nuisance Gabbaret Lounge Kraut und Rüben in Form. Das machte auf Platte weniger Spaß, als auf der Bühne – war dem Künstler aber eine Art Reinigung. Die hatte er nach Abschluss seines Philosophiestudiums und seinem Master of Arts in elektro-akustischer Komposition offenbar nötig.
In der Folgezeit beschäftigte sich Tim Exile intensiver mit Gesang und Pop und entwickelte in Kombination mit modernen Spielarten elektronischer Musik ein forderndes und überraschendes drittes Album. Listening Tree ist zugänglicher als die Vorgänger, denn neben den erprobten und perfektionierten Stotterrhythmen, zerschnittenen Tönen und verdrehten Effekten sind hier nun auch poppige Melodiebögen zu vernehmen. Und mit viel Hall versehener Gesang, der den teils opernhaften Arrangements Pathos verleiht.
Die Dynamik der Stücke ist enorm, keines endet, wie es beginnt. Tim Exile lässt ätherische Flächen durch den Klangraum wabern, schichtet perkussive Synthesizerklänge und fährt den fragilen Karren gegen eine Wand aus Schlagzeug und Verzerrung. Dazu singt er Stakkato, das nach New Wave klingt und Listening Tree zur Posse im virtuellen Hallraum macht.
Was sich in der Beschreibung anstrengend anhört, ist es teils auch. Doch das produktionstechnische Können des Musikers bettet das Lustspiel in ein Bett aus pumpenden Rythmen – starke Bassboxen sind dem Hörgenuss zuträglich. Oder eben die Lautsprecher eines Clubs. Denn dort ist diese Musik wohl am besten aufgehoben – wenn die Lautstärke den Hörer zwingt, sich auf den Einfallsreichtum des Künstlers einzulassen.
Manchmal steht sich dieses Ideenfeuerwerk selbst im Weg. Je dichter das klangliche Blätterwerk aufgeschichtet wird, desto mehr Aufmerksamkeit und Entschlüsselungsleistung verlangt es dem Hörer ab. Da wird Musikgenuss zum Vollzeitjob. Und seinen im Gegensatz zur Musik wenig abwechslungsreichen Gesang schickt Tim Exile ein bisschen zu häufig auf weite Wege durch den Hallraum.
Und doch: Er hat mit Listening Tree einen vorausschauenden Entwurf elektronischer Popmusik geschaffen, dessen dunkel-schillernder Unterhaltungswert sich aus der Qualität seiner Zutaten speist. Der Baum steht nicht einsam, er wächst inmitten eines verwunschen Gartens, von dessen Früchten und Blüten wir noch viel zu wenig wissen.
„Listening Tree“ von Tim Exile ist auf CD und LP erschienen bei Warp/Rough Trade
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