Wer Betty Padgetts zurückgelehnten Soul hört, muss ohnmächtig werden! Unseren Autor hat er zu einer Geschichte inspiriert
Dass sein T-Shirt völlig durchgeschwitzt ist, merkt Shane nicht, als er die Tür aufstößt. In der Hand hält er eine Schallplatte. Er stürzt ins Büro für fossile Datenträger [BffD]. Am Schreibtisch sitzt Andrew und tippt gelangweilt Mahnungen in seinen Rechner. Neben der Tastatur steht seine geliebte Kaba-Tasse. Auf blauem Grund trägt sie die Abbildung eines Pelikans, dessen Schnabel gerade einen Fisch verstaut. Andrew trinkt immer aus dieser Kaba-Tasse. Warum eigentlich? Er hat es nie für nötig gehalten, diese Gewohnheit zu erklären. Auch sich selbst nicht.
Als er in Shanes aufgeregtes Gesicht blickt, merke er, dass es hier nicht um Kaba ging. Im meditativen Rausch der Zahlen fällt es ihm schwer, die richtigen Gedanken zu fassen: Lass die Tasse stehen, nimm jetzt keinen Schluck, überhaupt gibt es Wichtigeres als Kaba. Frag ihn, wie es ihm geht. Innerhalb einer Millisekunde sortiert er die Aktivität seiner Synapsen, und eine recht konventionelle Formation Wörter verlässt seinen Mund:
„Was ist denn mit dir los?“
Er kennt Shane seit Jahren, nachts nennt er sich Deejay Sureshot, das weiß er. Und tagsüber kommt er oft ins BffD, um sich auszutauschen. Stundenlang trinken sie dann Kaba und spielen sich einige Datenträgern vor, die sie auf ihren Streifzügen durch Flohmärkte und Hinterhöfe entdeckt haben.
Das hier ist aber nicht der Shane, den er kannte. Ungepflegt steht er vor ihm und keucht wie eine Luftpumpe, die sich an einer löchrigen Luftmatratze abmüht. Seinem Mund entweicht ein mühsames „da…“, sein Kopf schwenkt zu dem fossilen Datenträger in seiner Hand, er hebt die Hand und – fällt um.
Andrew hält einen Moment lang inne und beobachtet die Szenerie. Ein Geruch steigt in seine Nase, und es ist kein Gestank. Etwas Archaisches liegt über Shanes Schweißgeruch. Eine Anmutung von Entdecken und Erobern, ein männlicher Instinkt, den er mehr aus einem kollektiven Bewusstsein, denn aus eigener Erfahrung spürt.
Behutsam legt er Shanes Kopf auf ein Kissen und fühlt seinen Puls. Er ist ohnmächtig. Was hat ihn nur so erregt? Andrew blickt auf den Datenträger, den Shane noch immer fest umklammert hält, und reißt ihn an sich. Er begreift sofort: Das ist nicht nur ein Datenträger, das ist mehr.
Er sieht ein anmutiges Bild. Wie eine Fotokopie wirkt es, doch kann es der Schönheit dieser Frau nichts anhaben. Nein, dieses Bild ist schöner als Hochglanz! Andrew liest den Namen: Betty Padgett.
Es ist so eine Sache mit dem Cover: Einem guten Album sieht man die Qualität an, das kann keiner erklären. Das Cover erzählt die Geschichte des Albums. Und doch kann man auf die Musik nicht verzichten, um sie zu dechiffrieren. Also legt Andrew die Schallplatte auf – und da wird Shane wieder wach.
Eine sinnliche und raue Stimme füllt den Raum, ein Synthesizer flirrt. It Would Be A Shame ist zurückgelehnter Soul mit einer Note Blues. Weiter geht’s mit Reggae, dem tropischem Rocksteady von My Eyes Adore You. Zitternd hebt Andrew die Kaba-Tasse, er will Shane zuprosten. Das ist wirklich ein Fund, zumal das nächste Stück in die Disco führt: Sugar Daddy – die Gitarre rollt wie ein Caddy, locker groovt das Schlagwerk. Und Betty singt so erwärmend, Schalk erfüllt die Zwischentöne.
Ein kurzes Album, das alle Genres schwarzer Popmusik touchiert, aber mit keinem länger als fünf Minuten tanzt. Angenehm, diese Vielfalt. 1975 wurde es an nur einem Abend aufgenommen. Im selben Jahr wurde es veröffentlicht als Debütalbum einer vielversprechenden Künstlerin der Florida-Funk-Szene. Und irgendwie ging es unter – nicht einmal Kenner kennen die Platte.
Aber: Musik ist kein Obst, vielleicht ist die Zeit ausgerechnet jetzt reif für Betty Padgett. Sogleich machen sich Andrew und Shane an die Arbeit. Diese Musik soll wieder auf Datenträgern vervielfältigt werden – auf CD, Mp3 und vor allem auf fossilem Vinyl! Und so erscheint im Jahr 2009 Betty Padgett von Betty Padgett. Andrew und Shane haben sich mittlerweile erholt. Selten ist dieses Album jetzt nicht mehr, dafür können sich mehr Menschen an ihm erfreuen.
„Betty Padgett“ von Betty Padgett ist als CD, LP und Download erschienen bei Luv’n’Haight/Ubiquity/Groove Attack.
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