Über die Jahre (34): Kein Album verkaufte sich so gut wie Michael Jacksons „Thriller“. Jetzt wird die erfolgreichste Platte der Popgeschichte wiederveröffentlicht, aber der Qualität von damals ist auch nach 25 Jahren nichts hinzuzufügen.
Am 4. April 1982 betrat Quincy Jones die Westlake Studios in Los Angeles, um Michael Jacksons zweites Soloalbum zu produzieren. Jones hatte genaue Vorstellungen von seiner Arbeit. »Wir sind hier, um die Musikindustrie zu retten«, sagte er zu seinen Kollegen. Im Gepäck hatten Jones und Jackson eine Auswahl von Stücken, an denen sie in den vergangenen Monaten fieberhaft gearbeitet hatten. Sie sollten zu einem Album werden, dessen Dramaturgie Michael Jackson mit Tschaikowskys Nussknacker-Suite verglich.
Nicht einen Schwachpunkt sollte die Platte haben – in der Vision von Jackson und Jones hatte Füllmaterial keinen Platz. Jedes Lied musste ein Höchstmaß an Hitpotenzial besitzen, um das Album in die Charts zu bringen. Auf den überwältigenden Erfolg des Ergebnisses war trotz aller Berechnungen niemand vorbereitet gewesen.
Mehr als 100 Millionen Mal verkaufte sich das Album seit seiner Veröffentlichung. Sieben Singles schafften es in den Achtzigern in die Billboard Top Ten. Damit waren die Grundsätze der Musikindustrie in Frage gestellt: Bisher hatten sich Künstler damit abgefunden, durchschnittlich zwei Stücke eines Albums als Singles auszukoppeln. Die weitläufige Annahme, zu viele Singles könnten dem Album als Gesamtwerk schaden, wurde von Thriller eindrucksvoll widerlegt. Hernach musste kommerzieller Erfolg neu definiert werden.
Bereits mit seiner visionären Disco-Dekonstruktion Off The Wall hatte Jackson alle Schallgrenzen durchbrochen. Die spielerische Dynamik von Don’t Stop ‚Til You Get Enough oder Working Day And Night wich nun einem kalkulierten Pop-Sound. Die neun Stücke auf Thriller schossen querfeldein und erreichten damit nahezu alle Hörerschichten. Das war zuvor nur wenigen schwarzen Künstler gelungen. Dieses Album war weder Disco, noch Rock oder Soul. Es war – wie sein Schöpfer mittlerweile – nicht einmal besonders schwarz. Michael Jackson schuf mithin das erste interkulturelle Popalbum.
So buhlt die weiße Popkultur, verkörpert von Paul McCartney, mit dem schwarzen Superstar um die Aufmerksamkeit eines Mädchens: The Girl Is Mine. Auch der Schulterschluss mit der uralten Heimat gelingt. Im Lied Wanna Be Startin‘ Somethin‘ zitiert der Hintergrundchor den afrikanischen Saxofonisten Manu Dibango.
Michael Jacksons Image wurde für diese Platte gründlich überarbeitet. Hatte er auf der Hülle des Vorgängeralbums noch als Disco-König in weißen Tennissocken posiert, zeigte nun das Foto zu Thriller den Sänger im lässigen weißen Anzug. Auf seinen Knien ruht ein junger Tiger, statt eines strahlenden Lächelns trägt der Sänger einen nüchternen Blick im Gesicht. Dieses Bild wurde zum Symbol schwarzer Coolness.
Das Album überrascht den Hörer mit Humor. Thriller ist eine Platte voller Spielzeug, sie klingt nach Geisterbahn, Schmonzette und Kindergeburtstag zugleich. Wenn im Titelstück der Altmeister des Horrorfilms Vincent Price mit Grabesstimme von Zombies und Vampiren rappt, ist das purer Kitsch. Michael Jackson ist sich der Fallhöhe durchaus bewusst. Sein naives Vergnügen an Rollenspielen prägt das gesamte Album. So inszeniert er sich als gefühlvoller Lover (Baby Be Mine), harter Straßenjunge (Beat It) oder vom Großstadt-Blues geplagter Stalker (Human Nature). Seine hervorragende Stimme verleiht all diesen Figuren Glaubwürdigkeit.
Thriller hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt, weil es die Balance zwischen inszenierter Künstlichkeit und Authentizität wahrt. Besonders die musikalische Perfektion lässt es auch nach 25 Jahren noch aktuell klingen. Wie schon für die Aufnahmen zu Off The Wall luden Quincy Jones und Michael Jackson nur die profiliertesten Musiker ins Studio ein. Neben dem ehemaligen Miles-Davis-Schlagzeuger Ndugu Chancler machte auch die halbe Besetzung der Rockband Toto mit. Die Professionalität der Studiomusiker, deren Namen sich nur im Kleingedruckten auf der Plattenhülle wiederfanden, verleihen dem Album eine zeitlose Qualität. Das Material ist ganz auf Michael Jackson zugeschnitten, kein Musiker-Ego stört die Ein-Mann-Schau.
Nur einen Ausbruch gönnt sich der Rockfan Jackson: Er verpflichtete den Gitarristen Eddie van Halen, der auf Beat It eines der berühmtesten Soli der Popmusik einspielte. Ein Geniestreich: Nie zuvor hatte ein weißer Hardrock-Gitarrist über ein Disco-Stück gespielt. Was 1982 noch als unmögliche Paarung erschien, gilt heute Künstlern wie Daft Punk, Justin Timberlake oder LCD Soundsystem als selbstverständlich.
Der eigentliche Höhepunkt des Albums ist jedoch eine einzige Basslinie. Das Motiv aus Billie Jean markiert einen Wendepunkt in der schwarzen Popmusik: Klang der Bass in Stücken wie James Browns Sex Machine noch wie ein räudiger Straßenköter, verwandelt er sich auf Billie Jean in einen schwarzen Panther. Im Rahmen einer Gala zum 25-jährigen Jubiläum der Plattenfirma Motown bezeugte Michael Jackson diese Geschmeidigkeit:
Zu den Klängen von Billie Jean führte er hier zum ersten Mal den legendären Moonwalk auf.
Seitdem lässt sich das Stück kaum ohne die Tanzschritte Jacksons denken. Untrennbar ist Thriller mit dem damals aufstrebenden Musiksender MTV verbunden, der Jacksons innovative Videos in die Rotation nahm und ihre Ausstrahlung zu popkulturellen Großereignissen machte. Mit diesem Album bestärkte Michael Jackson seine visuelle Künstlerpersönlichkeit.
Bei soviel historischer Gewichtigkeit muss die Frage erlaubt sein: Was kann eine Wiederveröffentlichung des Albums der Legende noch hinzufügen? Bereits die im Jahr 2001 erschienene Special Edition gewann dem Werk trotz Demo- und Bonustracks keine neuen Perspektiven ab. Auch für die Jubiläumsausgabe verzichtete man auf eine umfassende Überarbeitung des Sounds. Quincy Jones‘ Produktion gibt es nichts hinzuzufügen.
Um jedoch den Einfluss von Thriller auf den Pop der Gegenwart zu verdeutlichen, durften sich Kanye West, Akon und Will.I.Am von den Black Eyed Peas als Remixer versuchen. Ihre Interpretationen klingen seltsam blutleer. Will.I.Am, der Jacksons neues Album produziert, zwängt The Girl Is Mine und P.Y.T. in ein R’n’B-Korsett. Keine Spur mehr von der Leichtigkeit der Originale. Peinlich gerät der Remix von Beat It, auf dem Will.I.Ams Kollegin Fergie vergeblich ihre Stimmbänder bemüht. Einzig Kanye West kann in seiner Interpretation von Billie Jean frische Ideen umsetzen; vor der Stärke des Originals muss aber auch er kapitulieren.
Dass die Nachahmer scheitern, liegt auch an der emotionalen Brisanz des Materials. Denn trotz all der guten Laune und Verspieltheit zeichnet Thriller bereits erste Gemütsschwankungen Jacksons auf. Es sind die Anzeichen der Paranoia, die sein späteres Werk und Leben bestimmen sollte. So ist Wanna Be Startin‘ Somethin‘ mit seinem hyperaktiven Funk-Groove Jacksons erste Antwort auf die öffentliche Vereinnahmung seiner Person. In Billie Jean ist es der Vorwurf, ein uneheliches Kind gezeugt zu haben, gegen den Jackson verzweifelt ansingt: »She says I am the one, but the kid is not my son«.
Gerade diese musikalisierte Zerbrechlichkeit lässt das Album knapp 25 Jahre nach seinem Erscheinen umso relevanter erscheinen. Thriller ist nicht nur als perfektes Popalbum zu verstehen, sondern vor allem als Spiegel der komplexen Persönlichkeit seines Schöpfers.
„Thriller“ von Michael Jackson ist im Jahr 1982 bei Epic Records erschienen. Die Jubiläumsausgabe „Thriller 25“ ist als Doppel-CD und Doppel-LP erhältlich. Die beiliegende DVD enthält drei Musikclips, sowie Jacksons Auftritt bei der Motown-25-Gala.
Sehen Sie hier die meistverkauften Platten der Musikgeschichte in einer Bildergalerie »
…
Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)
(32) Naked Lunch: „This Atom Heart Of Ours“ (2007)
(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)
(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)
(29) Low: „Christmas“ (1999)
Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.
Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik