Bebrillte Durchschnittsgesichter bitten zum Tanz: Das neue Album von Hot Chip wirkt etwas eingedöst. Aber einen Hit schreiben können sie.
Da helfen auch keine bunten Pillen: Tanzen macht müde. Man merkte es der Musik von Hot Chip nur nicht an. Bislang nicht. Ihr neues Album One Life Stand beginnt zwar mit einer pumpenden Basstrommel. Die aber steht so verlassen in einem kargen Hallraum herum wie der berühmte Rufer in der Wüste. Oder eben ein einsamer Tänzer auf der Suche nach der nächsten Party.
Das Londoner Quintett war bislang für einen Spagat begannt: die Fähigkeit, mit feinsinnig konstruierten elektronischen Rhythmen die Massen in Schwingung zu versetzen und zugleich die heimische Chill-out-Zone zu beschallen, also das, was früher einmal Wohnzimmer hieß. Hot Chip führten die Kunst, einerseits einen Dancefloor zu füllen und andererseits einen Galerieraum mit berückenden Melodien zu erwärmen, sogar zu ungeahnter Meisterschaft. Sie konnten Ekstase, aber sie konnten auch Trost. Stets, vor allem auf ihrem hochgelobten Meisterwerk The Warning war die Melancholie versetzt mit einer gesunden Portion Euphorie. Die allerdings hat nun weitgehend ausgedient.
Neuerdings bleibt die Schwermut allein und blickt ein wenig frustriert auf einen entvölkerten Tanzboden. Dort, wo unter der Regie der Band bislang Indie-Pop und Techno, Kunstfertigkeit und Ballermann friedlich zusammenfanden, ist vielleicht keine Tristesse, aber doch eine gewisse Ernüchterung eingekehrt. Selbst wenn der Sänger Alexis Taylor mit seiner engelsgleichen Falsett-Stimme in I Feel Better die Magie einer nicht enden wollenden Nacht beschwört, klingt das vor allem verwunschen und sehnsüchtig, ganz wie ein Rufen im Walde. Mit Slush schließlich verlassen wir endgültig die Disco und kommen an in der Kirche.
Der Rhythmus nähert sich dem Erliegen, im Hintergrund brummelt ein Männerchor etwas ziemlich Sakrales. Währenddessen räsoniert Taylor übers Älterwerden und fragt sich: „Don’t I know there is a god?“ Selbst wenn die Mitternachtsmesse dann doch wieder im Club zelebriert wird, die Geschwindigkeit anzieht und die Tracks auf die Dauer wieder üppiger ausgestattet werden, wirkt der Versuch, die Hörer noch einmal auf die Tanzfläche zu locken, etwas zu durchdacht und abgeklärt, hat der Kopf endgültig die Herrschaft über die erschöpften Körper des kreativen Prekariats übernommen.
Vielleicht hat der Hot-Chip-Look, vor allem das bebrillte Durchschnittsgesicht von Taylor, schon immer weniger an Ecstasy-durchtanzte Wochenenden erinnert als an die Schreibwerkstatt im evangelischen Gemeindehaus. Dieser akademischen Erscheinung kommen sie mit One Life Stand nun auch musikalisch näher: Ihre Kunst besteht heute darin, Gegenwart und Vergangenheit kurzzuschließen. In ihr mit viel Liebe zum Detail entworfenes Sounddesign integrieren sie den aktuell angesagten Autotune-Effekt ebenso wie hysterisch quengelnde Achtziger-Synthies oder den Minimal Techno des vergangenen Jahrzehnts. In We Have Love zitieren sie schließlich mit pulsierenden Sequenzern und Refrains in Kastratenlagen ganz bewusst die klassischen Disco-Tracks aus Giorgio Moroders Münchner Studio der siebziger Jahre.
Fast scheint es, als hätten Hot Chip auf ihrem Rundgang durchs Instrumentenmuseum einen verlassenen Stuhl gefunden und wären beim Anstarren der vielen seltsamen Electronica einen Moment lang eingedöst. Zugleich träumerisch und akademisch abgesichert verarbeiten sie die Disco-Geschichte nebst dem Wissen, wie man Menschen zum Tanzen bringt, zu einer grandios schillernden, brillant formulierten Abschlussarbeit. Die Professoren mögen müde sein, doch einen Hit schreiben, das können sie noch.
„One Life Stand“ von Hot Chip ist erschienen bei EMI.
Dieser Text wurde veröffentlicht in DIE ZEIT Nr. 7/2010