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Depripop gegen Deprilaune

 

Wer die Schwermut vertreiben will, muss griesgrämige Musik hören! In diesem Sinne ist das neue Album der White Lies durchaus ein homöopathisches Heilmittel.

© Universal Music

Wenn man in Großbritannien aufwächst, muss man drei Dinge schnell lernen. Erstens: Wie man unfallfrei auf der linken Straßenseite fährt. Zweitens: Wie man ein englisches Frühstück verspeist, ohne dass einem schlecht wird. Und drittens: Dass Joy Division die großartigste Popband aller Zeiten ist. Seit ihre kurze Existenz mit dem Selbstmord von Sänger Ian Curtis 1980 endete, lieben alle Briten die Band aus Manchester. Alle außer einem: Harry McVeigh.

Das liegt nicht daran, dass McVeigh erst zur Welt kam, als Curtis schon lange tot war. Auch nicht daran, dass er eine Abneigung gegen morbide schillernden Gitarrenpop hegen würde. Nein, es ist ganz einfach: McVeigh kann den Namen der Ikonen einfach nicht mehr hören, weil seine eigene Band andauernd mit ihnen verglichen wird.

Er hätte ja früher als Jugendlicher tatsächlich gern Joy Division gehört, stöhnt der Sänger und Gitarrist der White Lies, das sei ja quasi Pflicht im heimischen Königreich. Aber die ewigen Vergleiche hätten ihm die vermeintlichen Vorbilder doch mittlerweile arg verleidet. Außerdem hätten Joy Division doch absichtlich kalt, ja geradezu maschinenhaft geklungen. Seine Band dagegen hätte einen viel menschlicheren Sound. Und überhaupt: Viel eher sei man von Tears For Fears beeinflusst.

So macht man sich keine Freunde in Großbritannien, sollte man denken. Es ist aber ganz anders: White Lies sind so ziemlich das Heißeste, was die englischen Musik-Zeitschriften aufs Titelbild hieven. Das war schon so, noch bevor vor zwei Jahren das Debütalbum To Lose My Life… des damals kaum der Pubertät entwachsenen Trios aus London erschien.

Und das wird jetzt, da der Nachfolger Ritual herauskommt, nicht viel anders sein, die großen Arenen sind jedenfalls schon gebucht. Das liegt auch daran, dass Ritual überaus geschickt andockt an die allseits wachsende Beliebtheit des depressionsfördernden Gitarrenpops. Was dem mit Suizid kokettierenden Hipster seine Interpol oder Editors sind, das sind dem mit Schwermut experimentierenden Teenager die kaum älteren Harry McVeigh, der Bassist Charles Cave und der Schlagzeuger Jack Lawrence-Brown.

Das Geheimnis dieser Musik liegt weder in den Texte von Cave, der sich auf Ritual vor allem am Thema Religion abarbeitet, noch in den diesmal neu eingebauten Streichern oder den eher vorsichtig eingesetzten Industrial-Samples, für die McVeigh ein gründliches Studium des Nine-Inch-Nails-Album The Fragile verantwortlich macht.

Nein, das nicht allzu gut gehütete Geheimnis sind natürlich McVeighs Bariton, der tatsächlich an den des Tears-For-Fears-Sängers Roland Orzabal erinnert, und die Gitarren, die regelmäßig zu dicken Wänden aufgestapelt und durch endlose Hallkammern geschickt werden.

Auf dem Debütalbum war der Bombast noch wohl dosiert, abgefedert durch jugendliche Naivität und ein unfertiges, bisweilen dünnes Klangbild. Nun aber wurden keine Kosten und Mühen gescheut, um zur größtmöglichen Geste auszuholen. Das Pathos regiert, während McVeigh im melancholischen Überschwang berichtet, wie „kalt und leer“ er sich fühlt. „Hold tight for heartbreak„“, singt er, „buckle up for loneliness„.

Man muss den drei jungen Männern zugute halten: Sie wissen, was sie da tun. Und vor allem, wie sie es tun. Die Pose ist perfekt durchgestylt und McVeigh erklärt, er wolle mit seiner Musik schließlich nicht mehr bieten als eine Möglichkeit zum Eskapismus. Tatsächlich wird man dieses Jahr kaum noch ein Album finden, mit dem sich schlechte Laune so gut bekämpfen lässt. Jedenfalls wenn man an Homöopathie glaubt und daran, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden kann. Wobei: Vielleicht würde es gegen britische Depressionen schon helfen, auf die Baked Beans zu verzichten.

„Ritual“ von White Lies ist erschienen bei Polydor/Universal.

Konzerte: 25.2. Hamburg, 3.3. Berlin, 21.3. Köln