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Hymnische Momente

 

Mit einer guten Portion Breitwandpathos gehen Airborne Toxic Event ihr zweites Album an. Virtuos spielen sie auf der Klaviatur der jüngeren Rockgeschichte.

© Island Records

Als The Airborne Toxic Event im Jahr 2008 ihr Debüt veröffentlichten, wurden sie einigermaßen gefeiert, aber auch gleich in einen Referenzrahmen zwischen Radiohead, Arcade Fire, The Strokes, Interpol und Modest Mouse eingespannt und bezichtigt, sich bei allen zu bedienen. Mit All At Once, dem traditionell schwierigen zweiten Album, hüpfen die Kalifornier fröhlich über die vor drei Jahren gezogenen Koordinaten – mit einem Bein in Richtung Bruce Springsteen, mit dem anderen New Model Army entgegen, und wenn noch eines übrig wäre, träte es Green Day auf die Füße.

Aber von vorn: Mikel Jollett, bis dahin freier Autor, schnappte sich im Frühjahr 2006 nach einer Reihe traumatischer Erfahrungen (Krebsdiagnose der Mutter, eine eigene Autoimmunerkrankung mit Pigmentstörungen und Haarausfall) eine Gitarre und begann, Songs zu schreiben. Er scharte Schlagzeuger, Bassisten und eine zweite Gitarre um sich, dazu die Geigerin Anna Bulbrook, die aber aus Sorge um ihre teure Violine lieber die weniger wertvolle Bratsche zur Probe mitbrachte.

Jollett benannte seine Band nach einem Kapitel aus Don DeLillos postmodernem Roman White Noise. Dort ist das „luftgetragene giftige Ereignis“ ein Chemieunfall, der die Protagonisten mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert – so ähnlich, wie die medizinischen Zwischenfälle in Jolletts Leben ihn zum Songschreiben anregten.

Wie der Roman befassen sich Jolletts Texte gern mit dem Zustand der zivilisierten Welt, mit Medienkonsum und Zukunftsangst. Verpackt sind sie in üppige Arrangements; das Calder Quartet, ein Streichquartett aus Los Angeles, ist Stammgast im Studio. Mit dem Louisville Orchestra und dem Colorado Symphony Orchestra haben die Airbornes Konzerte gespielt.

Vor fünf Jahren war diese Text-Sound-Kombination ein Renner, der Ruf der Band breitete sich aus wie die Giftwolke im Roman. Noch im Jahr der Gründung landete The Airborne Toxic Event (kurz TATE) auf der Rolling-Stone-Liste der 25 wichtigsten MySpace-Bands. 2008 erschien bei einem Indie-Label das ordnungsgemäß titellose Debütalbum. Die Single Sometime Around Midnight wurde auf iTunes zum Alternative-Song-Of-The-Year, und 2009 spielten U2 auf ihrer 360°-Tour regelmäßig eine Aufnahme davon, bevor sie auf die Bühne kamen. Schon das zweite Album war ein Live-Mitschnitt. 2010 engagierten sich TATE für Amnesty International und die Demokratiebewegung im Iran, als hätten sie schon 20 Jahre auf den Bühnen dieser Welt hinter sich.

Und nun also ein zweites Studioalbum, beim Major-Label Island. Die Ansage im Titelsong ist vollmundig: „We grow old all at once, and it comes like a punch / In the gut, in the back, in the face„. Schläge voll auf die Zwölf. Zu diesem Zweck bedienen sich Jollett und Freunde aller Mittel, die der popmusikalische Werkzeugkasten hergibt: militärisches Getrommel und Heldenchöre, wuchtige Schlagzeug-Bass-Kombinationen, melodiöse Hau-Ruck-Hooklines à la Springsteen, stimmliche Schmerzenskonvulsionen.
All At Once hat viele hymnische Momente. Ein humorvoller Rockabilly-Song wie It Doesn’t Mean a Thing lässt aufatmen zwischen all dem Breitwandpathos. Jolletts Texte bahnen sich nicht immer erfolgreich einen Weg zwischen Schwulst und Banalität, und die harmonische Abwechslung hält sich in Grenzen. Aber eine zweite Band, die so virtuos auf der Klaviatur der jüngeren Rockgeschichte spielt, findet sich so schnell nicht.

„All At Once“ von The Airborne Toxic Event ist erschienen bei Island Records/Universal.